Nonnenfürzle: Kriminalroman (German Edition)
und Hilfe angeboten.
Wie war sie erschrocken, als sie sah, dass zwei junge Menschen Unzucht miteinander
trieben. Deshalb wartete sie heute bis der Wagen sich mit singenden Reifen aus seiner
schlüpfrigen Situation befreit hatte und dachte, sich bekreuzigend, ganz kurz an
das weiße, haarige Gesäß und die weit gespreizten haarlosen Beine, die auf dem Armaturenbrett
lagen. Singend schritt sie zögerlich weiter, als sie hörte, dass das Auto die geteerte
Straße nach Sießen erreicht hatte und mit kreischendem Motor beschleunigte.
»Ach lass
die Wollust dieser Welt,
Pracht,
Hoffart, Reichtum, Ehr und Geld dir
länger nicht
gebieten!
Schau an
die große Sicherheit, die falsche Welt und
böse Zeit,
zusamt des Teufels Wüten.«
Als sie den locus cupido, den Begierde-Platz,
wie sie ihn seither in Gedanken nannte, erreichte, sah sie die Spur des Wagens.
Der Geruch von Benzin und der Dampf des Auspuffs lagen immer noch in der kristallenen
Luft. Und auf dem Boden lag ein lederner Handschuh. Sie bückte sich nach ihm, er
war auffallend schwer.
Dann sah
sie den gesplitterten Knochen. Mit einem gehauchten Seufzer ließ sie das, was sie
für einen Handschuh gehalten hatte, eine abgetrennte Hand, auf den gefrorenen Waldboden
fallen. Das Geräusch war lauter, als sie gedacht hatte.
»Oh gnadenreiche
Maria, was ist denn das?«
Sie streifte
die Handriemen ihrer Stecken ab und riss sich die Stirnleuchte vom beschleierten
Kopf. Zitternd leuchtete sie rundum. Eine Schleifspur führte durch den Schnee vom
Weg in den ansteigenden Wald hinein – zu einem blauen Plastiksack. Sie hob einen
ihrer Aluminium-Stecken wieder auf, stapfte wenige Meter steil hangaufwärts zum
ausgebeulten, blauen Müllsack und fummelte aus vorsichtiger Distanz mit der Spitze
des Walking-Werkzeuges in die Öffnung des blauen Beutels.
Immaculata-Floras
Atem gefror zu stummen Wölkchen.
Da der Sack
mit der Öffnung bergabwärts lag, kullerte ihr ein schwarz behaarter Kopf am steilen
Gelände entgegen. Sie schrie auf und versuchte, das gemächlich rollende Haupt zu
stoppen, bevor es ihre Füße erreichte. Panisch stieß sie zu. Der Abwärtsdrang des
körperlosen Hauptes war vehement gestoppt. Die Spitze des Nordic-Walking-Gerätes
steckte in der Nase des unbeleibten Wehrlosen. Wie zwei Tischtennisbälle mit dunklen
Öffnungen glotzten sie zwei Augen an.
Kopflos
rannte Immaculata-Flora los. Richtung Mutterhaus. All ihre irdischen Schätze, sogar
ihren Namen Roswitha Breuchhammer, aber auch ihr Handy hatte sie vor der ewigen
Profess abgegeben, kurzfristig bereute sie es.
Dann, nach
wenigen Minuten tauchten die Mauern des schützenden Klosters hoch und dunkel vor
ihr auf. Sie stoppte kurz, stützte sich mit beiden Händen keuchend auf den Oberschenkeln
ab, um wieder ruhiger atmen zu können. Und dann fiel ihr blitzlichtartig ein, warum
sie der Kopf so erschreckt hatte:
Es war nicht
nur die Tatsache, dass ihr während ihrer Walking-Meditation ein menschliches Haupt
vor die Füße gerollt war, es war das Aussehen des abgetrennten Körperteils. Das
Gesicht. Und jetzt tauchten auch die Bilder in ihrem Kopf auf und sie ordneten sich
mittels einer mentalen Automatik. Solche Gesichter hatte sie schon einmal gesehen
und es hatte sie abgestoßen. Es waren die Bilder von toten Gesichtern und toten
Leibern. Es waren die Gesichter, die dieser Gottlose herstellte. Der mit seinem
schwarzen Hut. Der, der schon selbst wie ein schlechtes Plastinat aussah, dieser
Gunther von Hagens. Genau, man nannte ihn den Plastinator! Und exakt wie dessen
perverse Produkte sah dieses Gesicht, das ihr entgegenrollte, aus. Es war gehäutet,
nur die Haare mit ihrer Kopfhaut bedeckten noch den Schädel. Schlagartig wurde ihr
retrospektiv übel.
2
Hirschtreffen
O Heilger
Geist, kehr bei uns ein
Du Quell,
draus alle Weisheit fließt,
die sich
in fromme Seelen gießt,
lass deinen
Trost uns hören,
dass wir
in Glaubenseinigkeit
auch können
alle Christenheit
dein wahres
Zeugnis lehren.
Höre, lehre,
dass wir können
Herz und
Sinnen dir ergeben,
dir zum
Lob und uns zum Leben.
Michael
Schirmer (1606 – 1673)
»Bönle, Augenblick mal!«, hörte
ich eine Stimme dicht hinter und über mir.
Ich erkannte
sie, es war die schöne Sopranstimme meines Rektors, und sie unterbrach das starke
Bedürfnis meiner Beine, den Ausgang der Gewerblichen Schule Bad Saulgau zu durchschreiten.
»So eilig
haben Sie’s beim Kommen nie! Sie waren heute Morgen drei Minuten zu spät! Ich
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