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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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I
    Die Firma, bei der ich arbeitete, produziert Trickfilme für einen Konzern. Ein Projekt bewarb Medikamente, mit denen sich die Intelligenz steigern lässt. Das menschliche Gehirn ist eine Goldgrube. Digitale Effekte können seine Leistungen erklären. Die Vorarbeiten zum Trickfilm führten Regisseur, Assistenten und sogar mich in die Tiefen der menschlichen Psyche.
    Die pharmazeutische Abteilung des Konzerns hatte dazu Fachzeitschriften geschickt. Ich schmökerte schon eine Weile darin, obwohl ich selbst nur für die Werbefilme banaler Nahrungsmittel zuständig war. Wie durch magische Kraft angezogen, blätterte ich immer schneller. Glückshormone tummeln sich im Synapsenspalt und treiben uns zur Höchstleistung an. Irgendetwas lockte mich. Mein Gehirn war durch das Wort „Glück“ stimuliert. Ich befeuchtete die Spitze des Zeigefingers, um die Blätter besser in den Griff zu bekommen. Dann ertappte ich die Seite, nach der ich suchte, die Substanz, diesen besonderen Botenstoff, der mich bis aufs Äußerste reizte, der gemischte Gefühle auf höchstpersönlicher Ebene erregte und mich süchtig machte. Keine leistungssteigernde Droge, keine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern ein simples Interview. Ein Festredner und eine Festrednerin waren abgebildet, unter den Porträts standen die Namen.
    Ich erkannte Marie sofort, obwohl ich sie seit Jahren nicht mehr aus der Nähe zu Gesicht bekommen hatte. Sie trug eine Brille. Ich las den Bericht über Serotonin mit angehaltenem Atem. Marie hielt offenbar Vorträge auf Englisch und Französisch. Sie war Professorin und wurde als Koryphäe unter den forschenden Ärzten des Konzerns bezeichnet. Der Mann an ihrer Seite war der, den ich für mich erwählt habe, Paul.
    Ich erhob mich von meinem Schreibtisch und ging in die Betriebsküche, trank Wasser, um das aufgebrachte Gemüt zu kühlen. Dann ging ich ins Büro meiner Chefin. Sie war nicht an ihrem Platz. Ich öffnete die Lade des Schreibtisches und zog die Lupe hervor, mit der sie das Kleingedruckte auf Rechnungen studiert. Ich legte die Lupe auf die Gesichter der Festredner und beugte mich, den Fokus auf die Münder richtend, hinunter. Im Bildtext wurden Marie und Paul als Paar bezeichnet, doch von Ehe war nicht die Rede. Sie glichen einander nicht durch die gemeinsam verlebte Zeit, sondern durch die Dünnlippigkeit. Marie hatte einst sinnliche Lippen gehabt und Paul auch, soweit ich mich erinnerte. Immerhin besaß er noch sein energisches Kinn. Ich entdeckte in den Zügen bitteren Ernst. Beide Sprecher waren durch engagierte Strenge gezeichnet. Die Lupe verrutschte und die Buchstaben verdeutlichten: Marie war nicht nur Ärztin, sie wurde dazu auch noch als modebewusste und attraktive Wissenschaftlerin vermarktet.
    Gewiss, ich war eifersüchtig und aggressiv wegen Paul gewesen, aber dass sie so nachtragend sein würde, meine Marie, hätte ich nicht vermutet. Im Interview stand kein Hinweis auf mich. Wie konnte meine Schwester so gemein sein und mich aus ihrer Karriere löschen, indem sie meine Identität verschwieg. Man fragte sie im Interview, weshalb sie sich mit Neurophysiologie befasse. Und was für ein Gefasel über das Geheimnis der Seele des Menschen gab Marie hier zum Besten? Peinlich. Wir wussten es beide besser: Ich war der Anlass für ihre besondere Hingabe an dieses Fach. Sie verstieß in weiteren Sätzen nicht nur gegen mich, sondern auch gegen meine Würde als Frau, denn alle Ermutigungen, die sie in ihrem Leben erfahren hätte, verdanke sie ausschließlich dem Zufall und Pauls Förderung, sagte sie. Ihre Familienverhältnisse beschrieb sie als eng und erstickend. Meine Sorge um sie handelte sie als „Unterdrückung durch gewisse Familienmitglieder“ ab. Das konnten unmöglich die Worte meiner Marie sein. Paul sprach aus ihrem Mund. Er stand ja zwischen uns, er hat uns entzweit.
    Das Telefon klingelte, die Chefin riss mich aus meiner Betrachtung. Sie brauchte mich für einen anderen Werbefilm, Tierfutter, der am nächsten Tag gedreht werden würde. Kostüme und Requisiten mussten noch besorgt werden. Ich war zuständig für diese Nebensache, zog mich warm an. Draußen schneite es, pünktlich zur Adventszeit.
    Als Marie auf die Welt kam, sie sich mir als Familie schenkte, steckte ich mich zu ihr unter die Decke, um sie zu wärmen in jener kalten Jahreszeit. Im Bett schwor ich, sie nie zu verlassen. Die kalten, nackten Wände im Haus hauchten uns an. Marie schlang ihre Ärmchen um meinen Hals und ich

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