Nora Roberts
immer wieder, während
er ihn in eine heftige Umarmung zog. »Warum zum Teufel hast du uns denn nicht
Bescheid gesagt, dass du nach Hause kommst?«
»Es war
eine spontane Idee«, erklärte Seth. »Ich wollte zurück – ich musste unbedingt
zurück.«
»Verstehe.
Und laufen bei Anna schon die Telefondrähte heiß? Verkündet sie allen, dass
wir ein Willkommensgelage veranstalten?«
»Wahrscheinlich.
Ich glaube, es soll am Sonntag stattfinden.«
»Prima.
Hast du deine Sachen schon reingebracht?«
»Nein. Sie sind noch im Wagen.«
»Bezeichne
dieses potthässliche Ding bitte nicht als Wagen? Komm, lass uns deinen Koffer
holen.«
»Cam ...«
Seth streckte die Hand aus und berührte Cams Arm. »Ich möchte nach Hause
kommen. Nicht nur für ein paar Tage oder Wochen. Ich möchte bleiben. Darf ich?«
Cam nahm
seine Sonnenbrille ab, und seine rauchgrauen Augen blickten Seth an. »Was zum
Henker ist los mit dir, dass du glaubst, du müsstest erst fragen? Bring mich
bloß nicht auf die Palme!«
»Das würde
ich nie wagen, schließlich traut sich das keiner bei dir. – Ich würde natürlich
auch meinen Teil beitragen.«
»Das hast
du doch immer getan. Und außerdem haben wir deine hässliche Visage hier
vermisst.«
Und das war
genau der Willkommensgruß, den Seth von Cameron Quinn hören wollte.
Seths
Zimmer hatte sich
über die Jahre verändert – die Farbe an den Wänden hatte gewechselt, ein neuer
Teppich lag auf dem Boden. Aber das Bett, in dem er geschlafen und geträumt
hatte und in dem er jeden Morgen aufgewacht war, war immer noch dasselbe.
Dasselbe
Bett, in das er als Kind Foolish geschmuggelt hatte.
Und
dasselbe Bett, in das er Alice Albert geschmuggelt hatte, als er glaubte, ein
Mann zu sein.
Seth war
sich sicher, dass Cam von Foolish wusste, aber er hatte sich oft gefragt, ob er
auch die Sache mit Alice mitbekommen hatte.
Er warf
seinen Koffer achtlos auf das Bett und legte seinen mitgenommen wirkenden
Malkoffer – den Sybill ihm einst zu seinem elften Geburtstag geschenkt hatte –
auf den von Ethan geschreinerten Arbeitstisch.
Er musste
sich demnächst unbedingt ein Atelier suchen. Solange das Wetter hielt, konnte
er draußen arbeiten, das war ihm ohnehin lieber. Aber er musste etwas finden,
wo er seine Leinwände und seine Malutensilien unterbringen konnte. Vielleicht
gab es Platz in irgendeiner alten Scheune, aber auf Dauer würde das natürlich
nicht gehen.
Und Seth
wünschte sich nichts mehr, als dass sein Aufenthalt in diesem Haus von Dauer
war.
Er hatte
genug vom Herumreisen, genug davon, unter Fremden zu leben.
Damals
hatte er weggehen und auf eigenen Füßen stehen müssen. Es hatte so vieles
gegeben, was er lernen wollte. Und er hatte dieses überwältigende Bedürfnis
verspürt, zu malen.
Und so ging
er für einige Jahre nach Europa, studierte in Florenz und arbeitete in Paris,
wanderte über die Hügel Irlands und Schottlands und besichtigte die Klippen
Cornwalls.
Die meiste
Zeit lebte er recht primitiv, und wenn er die Wahl hatte, etwas zu essen oder
neue Farbe zu kaufen, blieb er eher hungrig.
Hunger war
nichts Neues für ihn. Er konnte sich gut daran erinnern, wie es war, niemanden
zu haben, der sich darum kümmerte, dass man satt und gut versorgt war und nicht
fror.
Es war wohl
der Quinn in ihm, der ihn so versessen darauf machte, seinen eigenen Weg zu
gehen.
Seth legte
seinen Zeichenblock in die Schublade und verstaute Zeichenkohle und Bleistifte.
Er wollte einige Zeit damit verbringen, sich auf das Wesentliche seiner Arbeit
zu besinnen, bevor er wieder einen Pinsel in die Hand nahm.
An den
Wänden seines Zimmers hingen einige seiner frühen Zeichnungen. Cam hatte ihm an
einer alten Gehrungssäge in der Bootswerkstatt beigebracht, wie man Rahmen
fertigte. Seth nahm eine der Zeichnungen von der Wand, um sie zu betrachten.
Die groben, undisziplinierten Linien zeugten bereits von einem gewissen
Talent. Aber vor allem lag in ihnen das Versprechen auf ein Leben verborgen.
Er hatte
sie recht gut getroffen: Cam, der wie so oft die Daumen in seine Hosentaschen
einhakte, und dessen Haltung ausdrückte, dass er keiner Konfrontation auswich.
Dann Phillip, gewieft, elegant und clever. Und schließlich Ethan, der
Geduldige, Solide, in seinem Arbeitszeug.
Er hatte
auch sich selbst dazugezeichnet, den zehnjährigen Seth. Dünn, schmale
Schultern, große Füße und ein hochgerecktes Kinn, mit dem er etwas
Schmerzvolleres als Angst zu verbergen versuchte.
Etwas
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