Nora Roberts
fliehen musste. Also konnte er genauso gut
die Karten auf den Tisch legen, um in Erfahrung zu bringen, was eigentlich
Sache war.
»Warum
nehmen Sie mich mit zu sich nach Hause?«
»Weil du ein Dach über dem Kopf brauchst.«
»Ach, hören
Sie schon auf. So 'nen Scheiß macht doch keiner.«
»Manche
Leute schon. Stella, meine Frau, und ich, wir haben so 'nen Scheiß gemacht.«
»Haben Sie
ihr gesagt, dass Sie mich mitbringen?«
Ray
lächelte, aber es lag eine große Traurigkeit in diesem Lächeln. »Auf meine
Weise schon. Sie ist vor einiger Zeit gestorben. Du hättest sie gemocht. Und
sie hätte nur einen einzigen Blick auf dich geworfen und sofort die Ärmel
aufgekrempelt.«
Der Junge
wusste nicht, was er darauf antworten sollte. »Und was soll ich tun, wenn wir
dort angekommen sind, wo wir hinfahren?«
»Leben«,
erwiderte Ray. »Ein Junge sein. Zur Schule gehen, etwas anstellen. Und segeln
lernen. Das werde ich dir auf jeden Fall beibringen.«
»Auf einem
Boot?«
Jetzt
lachte Ray, ein mächtiges, dröhnendes Lachen, das den Wagen erfüllte und aus
irgendeinem Grund, den der Junge nicht verstand, die Verkrampfungen in seinem
Bauch löste. »Jawohl, auf einem Boot. Und ich habe einen Hundewelpen ohne jeden
Verstand – ich scheine immer die ohne Grips zu kriegen –, den ich stubenrein
bekommen muss. Dabei kannst du mir helfen. Du wirst einige Pflichten haben,
aber das werden wir noch genauer besprechen. Wir stellen Regeln auf und du
wirst dich daran halten. Glaub nur nicht, dass du mit mir ein leichtes Spiel
hast, nur weil ich ein paar Jährchen auf dem Buckel habe.«
»Sie haben
ihr Geld gegeben.«
Ray löste
seinen Blick für einen Moment von der Straße und sah in die Augen des Jungen,
die den seinen so sehr ähnelten. »Das stimmt. Das ist eine Sprache, die sie versteht,
wenn ich sie richtig einschätze. Aber dich hat sie nie verstanden, was, mein
Junge?«
Etwas ging
in Seths Inneren vor sich. Ein Gefühl, das ihn aufwühlte, das er aber nicht als
Hoffnung erkannte. »Wenn Sie sauer auf mich werden oder es leid sind, mich um
sich zu haben, oder Ihnen aus irgendeinem Grund danach ist, werden Sie mich zu
ihr zurückschicken. Aber ich werde nicht wieder zurückgehen.«
Sie hatten
inzwischen die Brücke überquert. Ray fuhr den Wagen auf den Seitenstreifen der
Straße und wuchtete seinen mächtigen Körper im Sitz herum, sodass sie einander
ins Gesicht sehen konnten. »Ich werde ganz bestimmt irgendwann einmal sauer
auf dich sein, und in meinem Alter wird man von Zeit zu Zeit auch manche Dinge
leid, aber ich mache dir hier und jetzt ein Versprechen, und ich gebe dir mein
Wort darauf: Ich werde dich nicht zurückschicken.«
»Aber wenn
sie ...«
»Ich werde
nicht zulassen, dass sie dich von mir wegholt«, unterbrach Ray ihn, da er
ahnte, was der Junge sagen wollte. »Egal, was ich tun muss, du gehörst jetzt
zu mir. Zu meiner Familie. Und du kannst bei mir bleiben, solange du willst.
Wenn ein Quinn ein Versprechen gibt«, fügte er hinzu und streckte die Hand aus,
»dann hält er es auch. Und von jetzt an duzt du mich und nennst mich Ray.«
Seth
blickte erst auf die ihm dargebotene Hand und dann auf seine eigene, die feucht
war vor Aufregung. »Ich mag es nicht, wenn man mich anfasst.«
Ray nickte.
»Kein Problem. Aber mein Wort gilt trotzdem.« Er
lenkte den Wagen wieder auf die Straße und warf dem Jungen einen letzten Blick
zu. »Wir sind beinahe zu Hause«, wiederholte er.
Nur wenige
Monate später war Ray Quinn gestorben, aber er hatte sein Wort gehalten. Er
hatte es durch die drei Männer gehalten, die er zu seinen Söhnen gemacht hatte.
Diese Männer schenkten dem mageren, misstrauischen, verletzten kleinen Jungen
ein neues Leben.
Sie gaben
ihm ein Zuhause und machten einen Mann aus ihm.
Cameron,
der rasch aufbrausende, leidenschaftliche Herumtreiber, Ethan, der geduldige,
verlässliche Fischer, Phillip, der elegante, gewiefte Manager. Sie waren für
ihn eingestanden, hatten um ihn gekämpft. Sie hatten ihn gerettet.
Seine
Brüder.
Das
goldene Licht der
späten Nachmittagssonne tauchte das Sumpfgras, die Wattenmeere und die flachen
Felder mit den ordentlich gepflanzten Reihen in einen schimmernden Glanz. Seth
fuhr mit heruntergelassenen Fenstern und sog den Geruch des Meeres in sich
auf, als er an der kleinen Stadt St. Christopher vorüberfuhr.
Er
überlegte, in die Stadt abzubiegen und als Erstes zu der alten, backsteinernen
Bootswerkstatt zu fahren. »Boats by Quinn« – dort wurden
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