Norden ist, wo oben ist
dort nach Öl und anderen Bodenschätzen suchen, ohne sich um die Umwelt zu kümmern. Echt, bei so viel Elend dort haben unsere Eltern gar keine Zeit, sich hier um uns zu kümmern.“
So, das waren ungefähr alle üblen Geschichten, die über Afrika in den Nachrichten kommen, auf einmal.
„Wirklich wahr?“, fragt Anna skeptisch.
„Wirklich wahr“, antworte ich und Mel schreibt mit dem Kugelschreiber auf einen neuen Zettel: „Sie sind seit zwei Jahren da unten.“
Für ihre Unterstützung verzeihe ich ihr sogar, dass sie unten und nicht im Süden geschrieben hat.
„Wow, wirklich beeindruckend!“, sagt Anna. „Aber irgendwer muss sich doch um euch kümmern?“
„Eigentlich unser großer Bruder“, fahre ich fort. „Aber der will jetzt nach Südamerika, um zu verhindern, dass der Regenwald weiter abgeholzt wird. Er will sich am Amazonas an einen Baum binden, um die Holzfäller zu stoppen. Sein Schiff geht heute Mittag von Rostock aus und wir wollen ihn aufhalten, weil wir ihn doch auch brauchen! Sonst sind wir ganz allein!“
„Ich dachte, euer Bruder wohnt in Rostock?! Hast du vorhin gesagt.“ Annas Stirn kriegt noch mehr Falten. Wenn ich jetzt Geld hätte, würde ich das Problem wie mein Vater lösen. Ich würde ihr hundert Euro in die Hand drücken, damit sie keine Fragen mehr stellt, und die Sache wäre erledigt. Ich habe aber keine hundert Euro und deswegen muss ich mir schnell etwas einfallen lassen.
Mel kommt mir zuvor.
„Im Hotel. Bis sein Schiff ausläuft“, kritzelt sie auf den Block.
„Ihr armen Dinger!“, murmelt Anna, die die Story scheinbar geschluckt hat. Das ist das Schöne an den Hippies. Denen kann man alles erzählen, die glauben ja auch an den Weltfrieden.
Anna gibt Gas und beschleunigt auf 100, obwohl hier nur 80 erlaubt sind. Wenn sie so weiterrast, erreichen wir das Schiff unseres Bruders locker, ehe es die Leinen wirft und nach Südamerika aufbricht.
„Ein bisschen Musik?“, fragt Anna nach einer Weile. Sie streckt ihren Zeigefinger aus, um das Autoradio anzuschalten.
Mel greift schnell dazwischen. Mir ist auch lieber, wenn Anna beide Hände am Steuer hält, aber darum geht es Mel gar nicht. Sie schnappt sich wieder den Block und notiert: „Lieber eine CD !“
Jetzt kapier ich! Mel will verhindern, dass Anna im Radio zufällig Nachrichten hört und so die Wahrheit über uns erfährt.
„Genau, da quatscht nicht ständig ein Moderator dazwischen“, bemerke ich von hinten, während Mel das Handschuhfach öffnet, um nach Discs zu suchen.
Von der Rückbank aus kann ich sehen, dass etwas matt Glänzendes im Handschuhfach liegt. Eine Pistole?! Das kann nur eine Pistole sein, was sonst, und so wie die aussieht, ist die garantiert nicht aus Seife!
Bevor ich noch einmal genauer hingucken kann, hat sich Anna auch schon zu Mel rübergebeugt und das Fach wieder zugeknallt.
„Klar habe ich Musik. Kannst du das ans Radio anschließen?“ Anna kramt umständlich aus ihrer Jackentasche einen MP 3-Player hervor, den Mel über das Kopfhörerkabel mit der Anlage verbindet. Als sie auf Play drückt, tönen amerikanische Songs der 70er aus dem Gerät. So richtig sülzige Hippie-Schnulzen mit Love und Peace und Happiness und so.
Erst der Revolver im Handschuhfach und jetzt das. Wir müssen so schnell wie möglich hier raus. Aber das ist nicht so leicht, wenn man mit 100 Kilometern die Stunde Rostock entgegenrast.
Ich würde gerne mit Mel unser weiteres Vorgehen besprechen. Aber das geht nicht, weil sie stumm spielt und ich schlecht nach vorne rufen kann: „Ich glaube, diese Anna ist total durchgeknallt. Lass uns lieber schnell hier aussteigen und zu Fuß weiterlaufen, so weit ist es ja nicht mehr.“
Dass wir uns unserem Ziel schnell nähern, merke ich, weil der Verkehr auf der Straße dichter wird. Das ist noch kein Stau oder so, aber ab und zu kommen uns jetzt auch andere Wagen entgegen. Das finde ich beruhigend, weil Anna uns ja wohl kaum vor Zeugen abknallen wird.
Andererseits sieht Anna überhaupt nicht aus wie eine psychopathische Serienkillerin, und für die Waffe im Handschuhfach gibt es bestimmt eine vernünftige Erklärung. Diese ewige Schwarzmalerei sollte ich mir wirklich abgewöhnen, dann wäre mein Leben leichter und vor allem sorgenfreier. Untermalt von den Klängen eines Liedes über die Sonne Kaliforniens passieren wir schon bald ein Schild, auf dem „Rostock 10 km“ steht.
Seltsamerweise freue ich mich gar nicht, dass wir unser Ziel fast erreicht haben.
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