Norden ist, wo oben ist
unheimlich. Ich ziehe mein Florett aus dem Gürtel und werfe es in den Graben zu den Kröten. Bis jetzt hat es mir überhaupt nichts genutzt. Im Gegenteil: Beim Laufen ist es mir ständig zwischen die Beine geraten. Zweimal hätte ich mich deswegen fast auf die Nase gelegt. Mel stopft die Pistole tiefer in die Hose und zieht ihren Pullover drüber. Dann kommt wieder ein Wagen. Doch weil ein Mann am Steuer sitzt und das Auto ein Nummernschild aus der Gegend hat, lassen wir ihn vorbeisausen. Das gilt auch für die nächsten beiden Wagen.
Dann taucht plötzlich ein alter Opel auf, der von einer Frau gefahren wird. Mittlerweile ist es hell genug, dass man das schon von Weitem erkennen kann. Das Kennzeichen HH für Hansestadt Hamburg passt auch. Aber das Allerbeste ist: Sie hält direkt neben uns und öffnet einladend die Tür.
Mel springt schnell auf den Beifahrersitz, sodass ich auf die Rückbank klettern muss. Der Sicherheitsgurt ist kaputt und TÜV hat der Wagen bestimmt auch keinen mehr. Das ist aber nur eine Vermutung, weil ich vergessen habe, vor dem Einsteigen nachzuschauen.
„Und? Wo soll es hingehen?“, fragt die Frau freundlich, während sie lostuckert. Ich kann ihr Gesicht im Rückspiegel sehen und schätze, dass sie ungefähr so alt ist wie meine Mutter, nur mit mehr Falten. Wahrscheinlich fehlt ihr das Geld, die wegmachen zu lassen. Ich finde es fast schöner so, aber das dürfte ich meiner Mutter niemals sagen, sonst wäre sie schwer beleidigt. Die Frau trägt ein Kleid mit einem bunten Blumenmuster und sieht aus wie ein alter Hippie. Sagt man bei Frauen auch Hippie oder ist das dann eine Hippierin?
Egal, sie sieht jedenfalls ein bisschen komisch aus, aber das ist gut so. Dann wundert sie sich auch nicht über unsere Outfits. Ich mit der Fechtjacke und Mel mit ihrem Fuchspelz sehen ja selber nicht gerade normal aus. Außerdem passt das Kleid der Hippierin gut zu ihrem Wagen. Auf der Ablage hinter mir steht ein Blumenkasten mit echter Erde und echten Blumen. Er wird von einem Sicherheitsgurt gehalten, damit er nicht durch den Wagen fliegt, wenn sie mal scharf bremsen muss.
„Jetzt sagt schon, wo wollt ihr hin?“, wiederholt die Frau ihre Frage, weil noch keiner von uns beiden geantwortet hat.
Ich warte gespannt, was Mel sich diesmal wieder einfallen lässt.
Mel aber sagt gar nichts, sondern greift zu einem Block, der zusammen mit einem Kugelschreiber am Armaturenbrett hängt. Sie notiert etwas auf einem Zettel und reicht ihn der Frau.
„Ich bin stumm, mein Bruder erzählt“, liest die Hippierin laut vor, dann wendet sie sich an Mel. „Oh, das wusste ich nicht! Das tut mir leid.“
Auch wenn ich nur ihren Hinterkopf sehe, bin ich sicher, dass Mel grinst. Das ist ihre Rache dafür, dass ich sie vorhin in den Graben gestoßen habe.
„Na, dann schieß mal los. Was haben zwei Kinder so früh am Morgen mitten in der Pampa zu suchen? Ich bin übrigens Anna“, sagt die Frau und strahlt mich im Rückspiegel erwartungsvoll an.
„Also, das ist so …“, beginne ich zögernd, um etwas Zeit zu schinden. „Meine stumme Schwester und ich sind auf dem Weg zu unserem Bruder in Rostock, der wohnt nämlich da.“
Ich halte es für das Klügste, mich möglichst nah an die Wahrheit zu halten, damit ich mich nicht in meiner Lügengeschichte verirre.
„Das passt ja gut! Nach Rostock will ich auch. Aber was ist mit euren Eltern? Lassen die euch einfach alleine losziehen?“, fragt Anna.
Okay, hier wäre sowieso Schluss mit der Wahrheit gewesen.
„Die sind in Afrika!“, platzt es aus mir heraus, weil wir gerade an einem Feld vorbeifahren, auf dem Strauße gehalten werden. Ich weiß, dass die wegen ihres gesunden Fleisches auch bei uns gezüchtet werden, aber es ist das erste Mal, dass ich welche sehe. Also hier in Deutschland, von den Safaris mit meinem Vater in Namibia kenne ich die natürlich.
„Und was machen eure Eltern da?“
Ich merke, wie Mel unruhig auf ihrem Sitz herumrutscht. Jede Wette, sie bereut es bereits, mir das Lügen überlassen zu haben. Sie weiß ja nicht, dass ich darin mindestens so gut bin wie sie.
„Sie helfen armen Kindern, die keine Verwandte mehr haben. Viele von denen sind an Aids oder Lepra erkrankt und haben jahrelang als Kindersoldaten in Bürgerkriegen gekämpft. Die anderen sind Flüchtlinge. Die haben alle fürchterlichen Hunger, weil sie pro Tag nur zwölf Körner Reis kriegen, und außerdem ist alles rund um das Flüchtlingscamp total verseucht, weil Konzerne
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