Norden ist, wo oben ist
Es geht mir plötzlich alles ein bisschen zu schnell. Was ist, wenn wir Mels Bruder tatsächlich finden? Dann ist unsere Reise zu Ende. Und vielleicht brauchen meine Eltern ja noch ein oder zwei Tage, um sich zu versöhnen!
Es war ein Fehler, in den Opel einzusteigen, und das hat mit der Pistole im Handschuhfach überhaupt nichts zu tun.
Der Lastwagen mit der originellen Werbeaufschrift „Für jedes Gesöff, Gläser von Löff“ vor uns muss bremsen. Anna folgt seinem Beispiel. Muss sie ja, sonst würde sie ihm hintendrauf knallen und ich quer durch den ganzen Wagen fliegen. Im Gegensatz zu dem gesicherten Blumenkasten hinter mir. Weil der Laster so groß ist, kann man nicht gleich erkennen, warum der Wagen der Firma Löff stehen bleibt. Erst als er wieder anfährt, sehen wir zwei dicke Polizisten, die ihn weiterwinken. Wir sind in eine Straßensperre geraten und man muss kein Hellseher sein, um vorauszusagen, dass die wegen Mel und mir da steht. Vielleicht suchen die aber auch eine Frau in einem bunten Blümchenkleid. Egal, einer von den beiden Ordnungshütern kommt genau auf uns zu.
Während aus den Lautsprechern What a wonderful world erklingt, streckt Anna seelenruhig ihre rechte Hand nach dem Handschuhfach aus.
Auch diesmal ist Mel schneller als ich.
„Nichts wie raus hier!“, brüllt sie.
Wir springen zeitgleich aus dem Wagen, Mel vorne, ich hinten, und rennen um unser Leben.
Als ich mich im Laufen umdrehe, sehe ich, wie Anna uns verblüfft nachschaut, weil die stumme Mel doch sprechen kann. Diesem Überraschungsmoment verdankt der Polizist vielleicht sein Leben. Ehe Anna das Handschuhfach öffnen kann, hat er längst die Fahrertür aufgerissen. Das sehe ich noch, kurz darauf verschwinde ich mit Mel auch schon hinter einer Hecke. Wir rennen eine gute Viertelstunde weiter, ehe uns auffällt, dass wir überhaupt nicht verfolgt werden. Mittlerweile sind wir schon in den Vororten von Rostock angelangt.
„Verdammt, wieso sind die nicht hinter uns her?“, fragt Mel noch ganz außer Atem, als wir hinter einer Mauer in die Hocke gehen, um uns auszuruhen.
„Weil sie es gar nicht auf uns abgesehen hatten“, erwidere ich ebenso kurzatmig.
„Wie jetzt?“
„Die haben die Irre mit der Waffe im Handschuhfach gesucht!“
Mel kapiert nicht sofort, was ich meine. Das liegt wohl daran, dass ihr Gehirn nach der Rennerei unter Sauerstoffmangel leidet. Ein Fußballspieler ist nach dem Abpfiff ja auch nicht in der Lage, komplizierte Gleichungen zu lösen. Na ja, vor dem Anpfiff wahrscheinlich genauso wenig.
„Was denn für eine Waffe?“
„Hast du nicht die Pistole im Handschuhfach gesehen?“
„Das war doch keine Pistole! Das war so ein altmodischer Telefonhörer!“, erwidert Mel. „Das konntest du von hinten nur nicht erkennen.“
„Und warum sind die Polizisten nicht hinter uns her?“, frage ich verblüfft.
„Hast du gesehen, wie dick die Bullen waren? Die hätten uns keine hundert Meter folgen können“, überlegt Mel laut und ich nicke. Das leuchtet mir ein.
Die nächsten Minuten nutzen Mel und ich, um wieder zu Atem zu kommen. Mel braucht ein bisschen länger als ich, wegen ihres Asthmas.
„Sicherheitsregel Nummer eins: Wir steigen nur bei Frauen ein“, schnauft sie und kichert los. Dass sie dabei meine Stimme nachäfft, hätte sie sich wirklich sparen können.
„Statistisch gesehen war das die richtige Entscheidung. Es gibt viel weniger Verbrecherinnen als Verbrecher“, wende ich ein.
„Statistisch gesehen hast du einen Telefonhörer mit einer Pistole verwechselt“, entgegnet Mel und lacht. Sie muss zwischen den einzelnen Wörtern Pause machen, weil sie nicht richtig Luft kriegt.
Deswegen bleiben wir noch eine Weile sitzen, schweigend. Dann erhebt sich Mel langsam aus der Hocke, aber so richtig gut geht es mit dem Atemholen immer noch nicht. Das ist deutlich zu hören.
„Wo willst du hin?“
„Wohin wohl?“ Mel tippt sich auf ihre Wade. „Wir haben noch was vor. Schon vergessen? Wir müssen das Schiff erwischen, ehe es mit unserem Bruder nach Südamerika abdampft.“ Mel lacht. „Und um ein Haar hätte uns die Telefonhörer-Killerin erwischt!“
Mel lacht noch mehr. Ich kann darüber nicht lachen. Es sind bestimmt schon Leute mit Telefonhörern erschlagen worden. So ungefährlich sind die gar nicht.
Mel giggelt und prustet. Sie kann gar nicht mehr aufhören und dabei wird ihre Atemnot von Minute zu Minute schlimmer.
„Lass das, Mel! Mir kannst du nichts vormachen!“,
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