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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Bertram
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nächsten Biegung schon zwei Streifenwagen auf ihn warten.
    „Netter Kerl“, sagt Mel und schaut ihnen nach.
    „Nett? Das war ein besoffener Fußballfan! Der hat uns total verarscht.“
    Mel schaut mich kopfschüttelnd an. „Manchmal bist du wahnsinnig eingebildet, weißt du das?“
    „Ich? Ich doch nicht!“, erwidere ich ehrlich getroffen. „Ich guck auch Fußball! Und zieh danach mit meinen Freunden um die Häuser! Ich habe sogar ein Trikot.“
    Das mit dem Trikot stimmt. Von Real Madrid und ich war dabei, als Ronaldo es unterschrieben hat.
    „Wahrscheinlich bist du Bayern-Fan“, sagt Mel.
    „Spinnst du?! Ich bin kein Bayern-Fan!“
    „Du benimmst dich aber wie einer“, erwidert Mel.
    Mel behält Recht. Der Typ hat nicht gelogen. Die Linie 0815 gibt es wirklich und wir müssen auch nur zehn Minuten warten, bis der Bus Richtung Rathausplatz kommt.
    Mel und ich setzen uns hinten auf die letzte Bank. Es ist das erste Mal, dass ich schwarzfahre. Der Fahrer hat komisch geguckt, als wir eingestiegen sind. Aber Mel hat mir vorher erklärt, wie man sich verhalten muss. Man darf auf keinen Fall verlegen die Augen niederschlagen, sondern muss einfach zurückstarren. So, als hätte man eine Fahrkarte.
    Es ist übrigens auch das erste Mal, dass ich überhaupt in einem Linienbus sitze. Wir machen immer alles mit dem Auto, und wenn mein Vater nicht kann, fährt mich unser Gärtner oder wer sonst gerade Zeit hat.
    Mel schaut die ganze Fahrt über aus dem Fenster. Wahrscheinlich überlegt sie, was sie sagen soll, wenn sie ihren Bruder trifft. Ich mache mir meine eigenen Gedanken. Wenn ich Glück habe, sitzen wir im falschen Bus. Am besten wäre ein Überlandbus, der uns nonstop nach Amsterdam oder Paris bringt. Möglichst weit weg von unserem Ziel, so wie beim Leiterspiel, wo man kurz vor dem Sieg noch auf dem Spielbrett ganz nach unten rutschen kann. Dann müssten wir wieder von vorne anfangen und meine Eltern hätten noch ein bisschen Zeit für sich.
    Aber von nonstop kann bei dem Bus keine Rede sein. Er hält an jeder Straßenecke. Die Leute, die einsteigen, mustern uns misstrauisch. Es greift aber keiner zu seinem Handy, um die Polizei zu alarmieren. Ich tippe mal, die haben Angst vor uns, weil Mel im Fernsehen doch als gefährliche Kidnapperin dargestellt wurde. Entweder das, oder sie erkennen uns nicht und starren uns nur an, weil wir so merkwürdig aussehen. Dabei habe ich nicht einmal die Maske auf. Ich habe sie hinter der Pforte vergessen, da wo ich Mel das Leben gerettet habe.
    Selbst das Umsteigen klappt reibungslos. Kaum sind wir ausgestiegen, rauscht auch schon der 007er heran und öffnet seine Türen. Der Fahrer glotzt uns an, wir glotzen den Fahrer an. Alles wie gehabt.
    Fünfzehn Minuten später sind wir da: Melchiorstraße. Die Nummer 14 ist ein Hochhaus. Mel und ich stehen vor dem riesigen Klingelbrett und suchen nach dem Namen von ihrem Bruder. Obwohl alles mit Edding beschmiert ist, geht das schnell. Das Haus steht scheinbar halb leer. Auf den meisten Klingeln fehlt jedenfalls der Name und so haben wir die richtige Wohnung rasch gefunden.
    Mel braucht jetzt nur noch zu klingeln, mit dem Aufzug zu ihm hochzufahren und ihren Bruder in die Arme zu schließen, während ich hier unten auf sie warte. Ich habe mich mit meinem Schicksal abgefunden. Unsere Reise ist zu Ende, und wenn sich meine Eltern bis jetzt noch nicht versöhnt haben, werden sie es nie tun.
    Aber Mel klingelt nicht. Sie steht einfach da und starrt auf den Namen ihres Bruders.
    „Mach schon! Deswegen sind wir doch hier“, drängele ich ungeduldig.
    Mel rührt sich nicht.
    „Kriegst du wieder einen Anfall?“, frage ich besorgt und krame die zwei übrigen Spraypackungen aus meiner Hosentasche.
    „Ich trau mich nicht“, flüstert Mel. So leise, dass nur ich es hören kann. Nicht aber die zwei Kindergangster, die gerade aus dem Haus kommen und erst mich und dann Mel mit der Schulter anrempeln, um zu zeigen, dass das hier ihr Revier ist. Für einen Moment überlege ich, ob einer der beiden Mels Bruder sein könnte. Aber dazu sind sie ungefähr zehn Jahre zu jung. Mels Bruder muss schon Mitte zwanzig sein, mindestens.
    Mel zeigt auf das Klingelschild.
    „Er wohnt im dreizehnten Stock! Im dreizehnten!“, sagt sie.
    Ich halte das für eine Ausrede. Ich glaube, sie hat einfach nur Angst. Hat sie die ganze Zeit gehabt, und je näher wir unserem Ziel gekommen sind, desto schlimmer wurde es. Es hätte mir schon im Bus zu denken geben sollen,

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