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Nore Brand 03 - Racheläuten

Nore Brand 03 - Racheläuten

Titel: Nore Brand 03 - Racheläuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marijke Schnyder
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gedeutet.
    Sie hatte seine Bemerkung ignoriert. Sie sah einfach aus wie sie selbst, einfach mit Brille.
    Das war schlimm genug.
    »Ich brauche runde Gläser. Durch die eckigen sehe ich nur Ecken.«
    »Klaro, wenn man eckig besser sehen würde, hätte die Natur unsere Augen auch eckig gemacht.«
    Nino Zoppa blieb sehr ernst bei seinen Worten.
    Ein Vorteil der Brille lag darin, dass die Welt wieder klare Formen angenommen hatte, wenigstens äußerlich. Andere Vorteile gab’s vermutlich nicht.
    »Eine verrückte Geschichte, aber ich weiß nicht, warum man so etwas lesen muss«, sagte sie, als Jacques ihr eine Tasse Kaffee brachte und sich zu ihr an den Tisch setzte.
    »Weil es interessant ist und den Horizont erweitert.«
    Sie schaute ihn an. Sie wusste, dass sie an diesem Morgen empfindlich war.
    Er deutete auf die Papiere für die Fortbildung. »Interessant?«
    »Das weiß ich nicht. Das werde ich im Zug erfahren. Noch früh genug.«
    Jacques schwieg und trank seinen Kaffee. Dann erhob er sich. Kurze Zeit darauf hörte sie, wie er seine Tastatur wieder traktierte. Er hatte einen Termin für seinen Artikel. Wie immer. Diese Termine waren die Schwarzen Löcher an seinem geistigen Himmel; sie drohten ihn permanent zu verschlingen. Das machte ihn zu einem sehr anstrengenden Mitbewohner.

    Kurz vor neun machte sie sich auf den Weg. Sie war eben dabei, die Türe hinter sich zu schließen, als sie hastige, leichte Schritte im Garten hörte. Dann stand ein Bub vor ihr. Es war der Spielgefährte von Wilma.
    Seine Wangen waren rot vor Anstrengung und Aufregung, die gegelten Haare durcheinander, sie sollten in der Mitte wohl zu einem Hahnenkamm geformt sein. Das waren sie nicht mehr. In seiner Fantasie glich er zweifellos seinem Star.
    Er schaute keuchend zu ihr auf.
    »Hast du Wilma gesehen?«
    Das war also Julius.
    »Wir wollten gestern Abend zusammen spielen, aber sie kam nicht! Und heute Morgen ist sie auch nicht gekommen! Sie ist sonst immer da!«
    Nore Brand schob den Schlüssel in ihre Tasche. »Gestern habe ich euch beide doch noch gesehen.«
    »Am Morgen schon. Aber wir wollten am Abend noch einmal auf den Spielplatz.«
    Nore Brand schaute in sein verschwitztes Gesicht.
    »Vielleicht musst du Wilmas Mutter fragen.«
    »Ich wollte ja. Aber sie öffnet die Tür nicht!«
    Sie schaute Julius an. Schweißtröpfchen standen auf seiner Nase. Sie bildeten ein munteres Muster zusammen mit den Sommersprossen.
    »Geht ihr denn jeden Morgen zusammen in die Schule?«
    »Ja natürlich!«
    »Vielleicht ist sie heute krank.«
    »Wilma ist nie krank.«
    Sie versuchte, ihn zu beruhigen.
    »Wilma wird auftauchen. Geh jetzt in die Schule. Sonst kommst du zu spät.«
    Er schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an.
    Nore Brand dachte an den Zug. Sie hatte knapp gerechnet. Die Begegnung mit Julius war nicht eingeplant gewesen. Wenn sie jetzt rennen würde, dann würde es reichen, aber sie müsste unglaublich schnell sein.
    Doch Schnelligkeit zählte sie nicht zu den erstrebenswerten Qualitäten der Menschheit. Wer dies dennoch tat, unterlag einem großen Irrtum.
    »Suchst du Wilma?«, fragte Julius nochmals. »Ein Mann wollte Dominik stehlen.«
    »Was für ein Mann?«
    »Er sagte, man könne Schildkrötensuppe machen aus Dominik.«
    »Und Dominik ist auch weg?«
    Er zuckte mit den Schultern.
    »Wann hat er ihr das gesagt?«
    »Am Samstag. Darum hatte sie Angst um Dominik.«
    »Komm heute Abend noch einmal. Ich muss zum Bahnhof …«, begann sie und brach ab, als sie in sein Gesicht schaute.

    Hier war vielleicht kein ›Fall‹, aber ganz sicher ein Kind in Not. Und sie hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte keinen Finger gerührt für die vermisste Schildkröte.
    Sie schaute auf die Turmuhr der Pauluskirche. Der große Zeiger stand auf der Ziffer 9. Das wäre es also gewesen. Der Zug war weg. Der Kurs hatte sich ohne ihr Zutun um viele Wochen verschoben, weil das Schicksal in der Person von Julius aufgetaucht war.

    An der letzten großen Versammlung hatte der Chef mit Nachdruck gemahnt, dass der Mensch das Zentrum all ihrer Aufmerksamkeit und Anstrengungen war. Der Mensch!
    Dazu hatte er mit bohrendem Blick in die Runde geschaut, von einem zum anderen. Er hatte sich alle Zeit für diese Eindringlichkeit genommen.
    »Das müssen wir uns immer wieder vor Augen führen«, hatte er gemahnt, »jeden Morgen, bevor wir uns an die Arbeit machen.« Er war unvermittelt in den Tonfall eines Pfarrherrn gerutscht. Das war neu. »Der Mensch und nur

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