Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
politischen Konsequenzen wissenschaftlicher Grenzziehungen. Den Autoren des neuen DSM -Handbuchs wirft er vor, für diese Folgen blind zu sein.
Frances fordert also von seinen Fachkollegen, dass sie strategisch agieren. Anstatt ihre Hände in Unschuld zu waschen, sollten sie die voraussehbaren Kosten und Risiken ihrer Entscheidungen in die redaktionelle Arbeit einbeziehen. Dies bedeute konkret, nur aus zwingenden Gründen neue Diagnosen aufzunehmen und dabei möglichst wenige Grauzonen und Schlupflöcher zu lassen, denn es gelte: »Sobald sich irgendwo eine Lücke zeigt, die Aussicht auf Gewinn bietet, wird sich rasch jemand finden, der mit dem Lastwagen hineinfährt« (S. 249). So seien die neuen Kriterien für die als Vorstufe von Alzheimer gehandelte »milde neurokognitive Störung« ( MNCD ) zwar recht sorgfältig formuliert, aber Frances geht ohnehin davon aus, »dass die Details dieses Kriterienkatalogs in der allgemeinen Praxis ignoriert werden und die Diagnose sehr großzügig angewandt wird […], um auch den allmählichen mentalen Verfall, der normaler Bestandteil des Alterns ist, zu pathologisieren« (S. 258). Deshalb dürfe man der Gegenseite nicht einmal den kleinen Finger reichen.
Frances’ Plädoyer für das Schließen von Schlupflöchern wirft eine schwierige wissenschaftsethische Frage auf, die auch andere Fälle gesellschaftlich relevanter Forschung betrifft, beispielsweise die Klimaforschung: Sollten Wissenschaftler ihre Erkenntnisse mit Rücksicht darauf formulieren, welche erwartbaren Wirkungen diese in der freien Wildbahn entfalten werden? Liegt es in ihrer Verantwortung als Wissenschaftler, dem möglichen Missbrauch durch politisch oder ökonomisch interessierte Akteure einen Riegel vorzuschieben? Soll ein Klimaforscher einen neu entdeckten Unsicherheitsfaktor, der quantitativ für den errechneten globalen Erwärmungstrend vernachlässigbar ist, öffentlich kommunizieren, wo er doch nur zu gut weiß, dass die von der Fossilenergielobby bezahlten »Klimaskeptiker« sich darauf stürzen werden, um ihr trübes Süppchen zu kochen?
Wohlgemerkt: Frances plädiert nicht für einen taktischen Umgang mit der Wahrheit , denn bezüglich unentscheidbarer Grenzfälle gibt es ja keine. Wofür er plädiert, ist ein taktischer Umgang mit den taktischen Manövern der Gegenseite: Wo die Profiteure der diagnostischen Inflation die unscharfe Grenze zwischen »normal« und »gestört« auf die gewinnbringende Seite der Grauzone verschieben, reklamiert Frances die Grauzone für die Normalität. Für die diagnostischen Handbücher bedeutet dies, bei der Festlegung der Kriterien Sicherheitspuffer gegen Missbrauch einzubauen und bei der Aufnahme neuer Störungen möglichst restriktiv zu verfahren: If in doubt, leave it out .
Aus Sicht des Homo politicus spricht viel für einen vorausschauenden, taktischen Umgang mit den Unschärfen der Wissenschaft. Es spricht aber auch Gewichtiges dagegen. Die Wissenschaft setzt dabei etwas aufs Spiel, das leicht verloren und schwer wiederzugewinnen ist: ihre Integrität und ihre Reputation als unparteiliche Instanz. Diese Reputation ist gerade in der politischen Arena ein Alleinstellungsmerkmal. Wie wertvoll sie war, merkt man erst, wenn sie verloren ist. Ein bedrückendes Beispiel ist der öffentliche Diskurs über die Klimaforschung in den Vereinigten Staaten. Es ist dort in der von agonalem Interessenstreit geprägten politischen Arena gelungen, die um die Erderwärmung besorgten Klimaforscher als eine Lobbygruppe unter anderen erscheinen zu lassen. Für die Wissenschaft – wie auch für das Rechtssystem − ist der worst case , in den Parteienstreit um Macht und ökonomische Interessen hineingezogen zu werden. Vielleicht sieht man diesen Verlust von »Alteuropa« aus etwas deutlicher. In einer politischen Kultur, die den Wert einer unparteilichen und unkorrupten Instanz, die parteiübergreifenden Respekt genießt, nicht mehr schätzen kann, bleibt nur das Recht des Stärkeren.
Insgesamt scheint mehr dagegen als dafür zu sprechen, dass die Wissenschaft sich aus staatsbürgerlicher Verantwortung selbst politisiert. Auf lange Sicht hat sie durch taktische Raffinessen mehr zu verlieren als zu gewinnen. Vielleicht ist Frances das insgeheim auch klar. Seine Blogger-Kampagne richtete sich an die DSM -5-Autoren und an die Scientific community , doch seine im siebten Kapitel entworfene Agenda zur »Eindämmung der diagnostischen Inflation« ist in erster Linie an andere
Weitere Kostenlose Bücher