Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
ausgebissen haben, besteht darin, dass man durch ein scheinbar einwandfreies Schlussverfahren »beweisen« kann, dass ein Haufen aus einem einzigen Sandkorn bestehen kann oder dass ein Kahlköpfiger volles Haar hat. Das Sorites-Argument besagt, dass durch die wiederholte Anwendung der Regel »Wenn n Körner ein Haufen sind, sind auch n -1 Körner ein Haufen« darauf geschlossen werden kann, dass auch ein einziges Korn ein Haufen sei. Die Prämisse ist wahr, wenn n groß genug gewählt wird, die Konklusion ist unwahr, also ist etwas schiefgelaufen. Aber was? Wenn die Wegnahme eines einzigen Sandkorns niemals einen Haufen zu einem Nichthaufen machen kann, scheint die absurde Konklusion unvermeidbar.
Nun gilt aber der Sorites-Schluss allgemein als Fehlschluss. Umstritten ist, worin genau der Fehler besteht. Er muss etwas mit der semantischen Vagheit des Ausdrucks »Haufen« zu tun haben, also mit seiner Randbereichsunschärfe. Im technischen Sinne »vage« nennt man sprachliche Ausdrücke, die Grenzfälle in ihrem Anwendungsbereich zulassen, also Fälle, auf die der Ausdruck weder klarerweise zutrifft noch klarerweise nicht zutrifft. Das Problem der Vagheit ist, anders als die philosophischen Standardbeispiele »Haufen« und »kahlköpfig« vermuten lassen, kein bloß akademisches, das man getrost professionellen Haarspaltern überlassen könnte. Es ist in vielen Fällen ein drängendes praktisches Problem. Man sieht das am »Argument der schiefen Ebene« ( slippery slope argument ), das beispielsweise in medizinethischen Debatten gegen geplante Veränderungen eines Status quo ins Feld geführt wird. Ein einschlägiger Fall ist der Schwangerschaftsabbruch: Selbst wenn Konsens darüber besteht, dass ein Abbruch am ersten Tag nach der Befruchtung keine moralisch inakzeptable Spätabtreibung ist, muss irgendwie der Sorites-Schluss verhindert werden, dass dann ein Abbruch am zweiten Tag ebenfalls keine Spätabtreibung ist, ebenso wenig eine am dritten, am vierten usw.
Zahllose Ausdrücke der natürlichen Sprache sind vage. Es liegt auf der Hand, dass »gesund« und »krank« dazu zählen. Also kann man auch mit ihnen Sorites-Schlüsse konstruieren und »beweisen«, dass ein Todkranker gesund sei, da er sich ja von einem unzweifelhaft Gesunden nur durch eine Reihe verschwindend kleiner Zwischenschritte unterscheide. Die Sorites-Anfälligkeit vager Ausdrücke ist nicht nur in der Sprachphilosophie, sondern auch in der medizinischen Klassifikationslehre ein gravierendes und theoretisch ungelöstes Problem. Es betrifft zum einen die Abgrenzung zwischen »gesund« und »krank«, zum anderen die Klassifikation einzelner Krankheiten, auch somatischer. Wenn zum Beispiel beim metabolischen Syndrom die Normwerte für Blutdruck, Glukose, Insulinresistenz oder Taillenumfang nur um wenige Prozent verändert werden, was schon wiederholt geschehen ist, so zählen durch einen Federstrich Millionen Patienten als behandlungsbedürftig krank, die es vorher nicht waren – und umgekehrt.
Im Falle der psychischen Störungen kommt nun erschwerend hinzu, dass Definitionen und Diagnosen sich in der Regel nicht auf biologische Tests stützen können. Frances meint sogar, dass die Psychiatrie über keinerlei brauchbare Definition von »psychische Störung« verfüge. Wenn Wissenschaftler anderes behaupteten oder mehr Exaktheit suggerierten, als tatsächlich vorhanden ist, seien sie intellektuell unredlich. In einem Interview hat Frances die Behauptung, »psychische Störung« ließe sich definieren, schon einmal deftig als »bullshit« bezeichnet.
Was also tun? Wenn von einer Definition nichts weiter abhängt als der Erfolg der sprachlichen Verständigung, können Sprecher sich konventionell auf einen Wortgebrauch einigen. Solche Konventionen sind typischerweise kontextgebunden: Unter einem »Haufen« mögen Arbeiter auf der Baustelle eine Ansammlung verstehen, die man schneller mit einer Schaufel als mit einem Besen von A nach B transportiert. Wenn dagegen hohe Güter auf dem Spiel stehen, erwartet die Gesellschaft von ihren Experten − Medizinern, Juristen, Philosophen, Mitgliedern von Ethikkommissionen – keine Ad-hoc-Abgrenzung und keinen hemdsärmeligen Pragmatismus, sondern sachlich begründete Entscheidungen mit nachvollziehbaren Entscheidungsgrundlagen. Die Debatte über Gesundheit und Krankheit ähnelt in dieser Hinsicht den Debatten über den Zeitpunkt des Lebensbeginns und des Lebensendes. In beiden Fällen ist die Materie
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