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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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    Frances’ Kampagne gegen die DSM-Revision
    An der Überarbeitung der »Psychiatriebibel« mitzuarbeiten ist für einen Psychiater eine hohe Ehre. Eine noch höhere ist es, eine neue Störung zu entdecken und ins DSM zu hieven − so wie es einem Biologen Reputation verschafft, eine neue Spezies zu entdecken, oder einem Astronomen, einen neuen Planeten zu entdecken. Leider sind die Grenzen zwischen Entdecken und Erfinden im ersten Fall fließender als in den beiden anderen. Allen Frances beschreibt eine weitere inflationsfördernde Triebkraft: Psychiatrische Experten, die engagiert ihr Forschungsgebiet bearbeiten, werden »mitunter zu wahren Gläubigen, die ihre Lieblingsdiagnosen mit echter Zuneigung hätscheln und sie wachsen und gedeihen sehen wollen« (S.   133). Nicht ein Mal habe er während seiner Arbeit am DSM-IV jemanden erlebt, der die Diagnosen seines eigenen Forschungsgebiets hätte reduzieren wollen. Auch von Wissenschaftlern ist es viel verlangt, ein Misstrauen gegen die eigene Eitelkeit und den Tunnelblick zu entwickeln.
    Frances hat in den vergangenen Jahren eine regelrechte Medienkampagne gegen die Neufassung des DSM -Handbuchs geführt. In zahllosen Blogs und Zeitungsartikeln hat er mit Mitstreitern geplante Aufweichungen der diagnostischen Kriterien kritisiert und eigene Vorschläge gemacht. Dieser Feldzug hatte durchaus Erfolge. Das DSM -Autorenteam hat in letzter Minute einige besonders scharf kritisierte Schwellensenkungen und neue Diagnosen fallen gelassen. Andere Kämpfe gingen verloren. Zu ihnen gehört die Neufassung der Kriterien für die Depression ( Major Depressive Disorder ). Bisher galt, dass zwei Monate nach dem Verlust eines nahen Angehörigen keine Depression diagnostiziert werden sollte. Das DSM -5 wird diese Frist auf zwei Wochen verkürzen oder ganz streichen. Die Befürchtung der Kritiker ist, dass diese Änderung zu zahllosen Fehldiagnosen der normalen Verlusttrauer als krankhafter Störung führen wird. Die Verteidiger geben zu bedenken, dass das Diagnosehandbuch den Arzt ja nicht zu Diagnosen zwingt, sondern ihm lediglich auch in diesen Fällen die Verschreibung von Antidepressiva erlaubt. Erfahrene Psychiater hätten genügend Sachverstand, um die Trauer über einen Verlust von der behandlungsbedürftigen Depression zu unterscheiden. Gegen dieses Argument wendet Frances ein, dass der überwiegende Teil der Psychopharmaka nicht von Psychiatern, sondern von Allgemeinmedizinern verschrieben werde, die im Durchschnitt sieben Minuten Zeit für ein Patientengespräch aufwenden. Außerdem sende die Neuregelung das fatale Signal aus, dass tiefe Trauer um den Verlust eines Angehörigen nicht normal sei und möglichst schnell überwunden werden müsse.
    Allgemein sieht Frances in der diagnostischen Inflation einen Ausdruck des Trends, soziale Probleme, Umweltfaktoren und Fährnisse des Lebens zu psychiatrischen Störungen umzudeuten. Ein gutes Beispiel ist die angebliche »Völlerei-Störung« ( Binge Eating Disorder ), die die wahren Ursachen der amerikanischen Fettleibigkeitsepidemie verschleiere und Aufmerksamkeit von der notwendigen öffentlichen Gesundheitspolitik abziehe.
    Das Problem der unscharfen Grenzen
    Man muss nicht alle Einschätzungen von Frances teilen, um das schwierige Grundsatzproblem anzuerkennen, das dem Streit über die diagnostische Inflation zugrunde liegt. Unkontrovers ist, dass psychisch Kranken eine Behandlung angeboten werden sollte, Gesunden nicht. Das Problem ist eines der Abgrenzung: Wo verläuft die Grenze zwischen »krank« und »gesund« und wie stellt oder legt man sie fest? Das Abgrenzungsproblem ist theoretisch so schwierig, weil es zwischen Gesundheit und Krankheit kontinuierliche Übergänge gibt. Besonders deutlich ist das bei fortschreitenden Krankheiten wie beispielsweise der Altersdemenz: Rita Hayworth, Ronald Reagan und Inge Meysel waren nicht zeitlebens dement, am Ende ihres Lebens waren sie es. Da sie sich die Krankheit nicht über Nacht zugezogen haben, hat es Vor- und Zwischenstufen gegeben, die sich der sauberen psychiatrischen Klassifikation entziehen.
    Das Beispiel lässt sich verallgemeinern: Neben klar positiven und klar negativen Fällen von »Gesundheit« und »Krankheit« gibt es eine Grauzone in der Mitte. Diese Struktur ist aus der philosophischen Diskussion über das sogenannte »Haufenparadox« bekannt. Das Problem, an dem schon Generationen von Philosophen sich die Zähne

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