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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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-Handbuch sind viele Störungen durch ein Bündel von Kriterien definiert, von denen eine bestimmte Mindestzahl erfüllt sein muss. Zudem geschieht die Abgrenzung zur Normalität oft anhand quantitativer Merkmale, nämlich anhand der Dauer und des Schweregrads der Symptome. Nicht jeder, der eine Zeit lang traurig ist, hat eine klinische Depression. Von diesen Feinheiten steht aber in den Werbeanzeigen nichts, die in der Regel mit »Fragen Sie Ihren Arzt!« enden. Wer hätte sich aufgrund einer suggestiven Schilderung unspezifischer Symptome und Befindlichkeitsstörungen noch nie gefragt, ob er nicht auch unter ihnen leidet? Wenn die Symptome dann noch mit einem medizinisch klingenden Etikett versehen und auf ein »chemisches Ungleichgewicht« im Hirn zurückgeführt werden, das sich medikamentös beseitigen lasse, muss man nicht besonders labil oder hypochondrisch veranlagt sein, um sich behandlungsbedürftig krank zu fühlen. Schließlich wird etwas versprochen, was sich ohnehin jeder wünscht: weniger Stimmungsschwankungen, höhere Belastbarkeit, weniger Ängste, bessere Leistungen in der Schule oder im Beruf. Mit der werbeinduzierten Selbstdiagnose geht der besorgte Gesunde zum Hausarzt, der ausgiebig von Pharmavertretern präpariert worden ist und seinerseits nur Leistungen abrechnen kann, wenn er eine nach DSM verschlüsselte Diagnose stellt (in Deutschland: nach der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen ICD -Klassifikation). Der Patient nimmt das verschriebene Psychopharmakon ein, fühlt sich aufgrund der Zuwendung und der Placebowirkung häufig besser − schließlich war er nicht ernsthaft psychisch krank – und führt die Besserung auf das Medikament zurück, das er dann dauerhaft einnimmt.
    Um diese Spirale in Gang zu halten, muss das DSM freilich mitspielen. Besonders anfällig dafür, zu Modeepidemien zu werden, sind neu aufgenommene leichte Störungen, die sich definitorisch schwer von Normalzuständen abgrenzen lassen. Frances bedauert, bei der Verabschiedung des DSM-IV die Missbrauchsgefahr der Diagnosen »Aufmerksamkeitsdefizitstörung« und »bipolare Störung« unterschätzt zu haben, deren Zahl in den letzten fünfzehn Jahren insbesondere bei Kindern explosionsartig angestiegen ist. Aktuelle Zahlen aus Deutschland besagen, dass ein Fünftel aller im Jahr 2000 geborenen Jungen schon die Diagnose ADHS gestellt bekam. 2 »Wenn man eine neue Diagnose anbietet, stürzen sich die Leute darauf«, sagt der Psychiater Asmus Finzen. Auch sind psychische Erkrankungen in Deutschland mittlerweile der häufigste Grund für Erwerbsminderungsrenten.
    Den politischen Fehler, die Direktwerbung für Psychopharmaka beim Verbraucher freizugeben, wird in Europa hoffentlich so schnell niemand nachmachen. Allerdings hat die Pharma-Lobby auch auf EU -Ebene wiederholt versucht, eine Lockerung des Werbeverbots für verschreibungspflichtige Medikamente zu erreichen.
    Eine zweite Besonderheit der amerikanischen Rechtslage betrifft die Begutachtung psychisch gestörter Straftäter vor Gericht. Frances kritisiert die starke Zunahme forensischer Begutachtungsverfahren bei Sexualstraftätern, obwohl doch die meisten dieser Täter psychisch gesund seien: »Vergewaltigung ist keine psychische Störung, sondern ein Verbrechen.« Frances’ Kritik an den hohen Kosten der Begutachtungsverfahren und der psychiatrischen Unterbringung der Täter ist für europäische Ohren irritierend. Darf ein faires Verfahren eine Kostenfrage sein? Man muss aber wissen, dass in den USA die forensischen Gutachter nicht wie in Deutschland vom Gericht beauftragt werden, sondern von den Prozessgegnern. Sie sind also von vornherein Partei und haben nicht das primäre Interesse, zur Wahrheitsfindung beizutragen.
    Die gesundheitspolitische Grundkonstellation ist aber in den USA ähnlich wie in Deutschland: Die Zahl der Akteure, die am Wachstum des Medizinsektors interessiert sind, ist weitaus größer als die der Inflationsbekämpfer. Die Krankenkassen sollten eigentlich auf der anderen Seite der großen Interessenkoalition stehen, aber in der Praxis erweisen sich ihre Bemühungen oft als kontraproduktiv: Um unnötige Arztbesuche zu vermeiden, erstatten die Kassen auch in den USA ohne gestellte Diagnose keine ärztlichen Leistungen. Diese Regelung hat die Zahl der Arztbesuche nicht gesenkt, sondern dazu geführt, dass großzügiger diagnostiziert wird. Die Kassen täten nach Frances besser daran, die Ärzte auch für das Abwarten und für die

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