T93 Band 1: Überlebe!
Band 1:
Überlebe!
»Gott würfelt nicht« – Albert Einstein
»Gott ist ein Kind mit einem Ameisenhaufen« – John Constantine
Pastor Lamberti predigte bereits seit gut einer Stunde. Es ging um das Leben, das Leben nach dem Gericht des Herrn. Seine Predigt war, anders als sonst, voller Ermahnungen, ja fast Drohungen. Er zitierte abschließend aus den Büchern Hiob, Jesaja, Prediger und Johannes:
»In der Heiligen Schrift steht geschrieben: Die Toten schlafen. Die Toten wissen nichts. Jeder Trieb des Herzens kommt nach dem Tod zum Stillstand. Bei den Toten ist kein Unterschied. Alle Pläne des menschlichen Geistes sind verloren. Der Geist geht zu Gott zurück. Sie werden aus den Gräbern hervorgehen zur Auferstehung des Lebens oder des Gerichts, wenn sie seine Stimme hören. Wenn ihr Ohren habt zu hören, dann hört, liebe Gemeinde. Gott ist bei euch. Auch wenn es am schlimmsten kommt. Amen.«
»Amen«, antwortete die Gemeinde, die hier, in der Bugenhagenkirche, nur aus wenigen Senioren und einer Handvoll Gemeindemitarbeitern bestand. Die Evangelische Kirche verlor mehr und mehr Mitglieder, seit die New-Age-Bewegung und die aus USA importierten Freikirchen hier in Deutschland Menschen fischten.
Der Pastor stand vor der Kirchentüre und verabschiedete jeden Teilnehmer des Gottesdienstes per Handschlag. Mit einem Mal zuckte er zusammen. Etwas hatte ihn gezwickt. Er sah an sich herunter und bemerkte eine kleine Maus, die sich in der Haut an seinem Knöchel festgebissen hatte. Sandalen sind wohl auch nicht passend zur Soutane, dachte er und schüttelte das kleine Tierchen ab. Die Stelle da unten am Knöchel brannte auf einmal höllisch. Hoffentlich gab es keine Entzündung, hoffentlich hatte das Biest keine Tollwut oder so. Er musste schleunigst hinüber ins Pastorat, die Wunde desinfizieren. Er hatte, was Hygiene und Krankheitserreger anging, immer etwas Panik. Das Herz schlug bis zum Hals, als sich eine dieser Panikattacken, vor denen er sich so fürchtete, näherte, so war es oft. Innerlich erflehte er den Beistand des Herrn.
Doch mit einem Mal war Stille. Eine unerklärliche Stille in ihm. Kein Bup-Bup. Nur Hitze. Rauschen, Furcht. Sein Brustkorb hob sich nicht mehr. Er wollte atmen, die frische Luft in seine Lungen saugen, doch sein Zwerchfell blieb … irgendwie ... was wollte er noch denken? War es ... was ... da war ein Gefühl. Das Gefühl war ROT. HUNGER.
»Jeder Trieb des Herzens kommt nach dem Tod zum Stillstand. «
Ein bestialischer Trieb erwachte in ihm. Kein Trieb des Herzens, ein Trieb des Fleisches. Urplötzlich, unerwartet, gottlos. GIER. Fressen. Fleisch. Er wankte unsicher, fast wie ein Betrunkener, hinüber ins Pastorat, wo seine Frau bereits das Mittagessen zubereitet hatte. Seine beiden Jungs waren auch zuhause; der Pastor legte Wert auf Vollzähligkeit am Mittagstisch, zumindest am Sonntag. Da war dieses Fieber. Hitze stieg im zentralen Strang seines zentralen Nervensystems auf, wie eine ICBM im Raketensilo. Und in seinem Kopf explodierten die Sterne.
Er sah Bilder vor seinem geistigen Auge, die ein Pastor nicht sehen sollte. Bilder von Fleisch, blutigem Fleisch, das mit Zähnen und Klauen zerrissen wird. Er hörte förmlich das Bersten von Muskelfasern, die roh von Knochen gerissen wurden, das schmatzende Geräusch von Gedärmen, die in einem stinkenden Schwall aus Leibeshöhlen glitten und das gurgelnde, saugende Geräusch von gierigen Kehlen, die blutiges Fleisch und Innereien verschlangen. Doch die Bilder und Töne entsetzten den fiebernden Geist nicht, im Gegenteil.
Als sein vierjähriger Sohn Simon zur Tür kam und ihm öffnete, beugte sich der Pastor über ihn und statt des erwarteten liebevollen Begrüßungsküsschens des Vaters gab es für das Kind eine Hölle aus Schmerzen. Der Pastor biss den kleinen Jungen in die Halsschlagader, in hohen Fontänen spritzte das Blut aus seinem Hals durch den Flur und färbte die Tapeten, jeder Herzschlag des armen Jungen pumpte neues Blut aus der Öffnung, wo sein Vater das Fleisch aus dem Hals gebissen hatte, das Kind konnte nicht einmal schreien, so viel Blut lief in seiner Kehle zusammen.
In diesem Moment öffnete die Frau des Pastors die Küchentüre. Die Schüssel mit Klößen entglitt ihrer Hand und zersprang auf dem Boden. Die Klöße rollten umher und färbten sich in der großen Blutlache schnell, sie kullerten umher wie rote Tennisbälle. Die Frau schlug die Hände vor den Mund, als sie ihren Gatten, den Mann Gottes,
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