Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
führte die Rituale durch. Er war nicht nur Medizinmann, sondern auch spirituelles Medium, Richter, Intellektueller und Unterhalter. Er musste, im wahrsten Wortsinn, die Lieder des Stammes singen, um sein Essen zu bekommen. Und er konnte tanzen.
Aber auch die Psychiatrie war immer ein wesentlicher Teil seiner Aufgaben. Wir sind soziale Wesen, die auf gute Beziehungen und den Gruppenzusammenhalt angewiesen sind, um zu überleben. Abnormes Verhalten bedroht nicht nur den Einzelnen, sondern ist eine eindeutige, unmittelbare Gefahr für die Zukunft des Stammes. Psychiatrische Notfälle müssen rasch benannt, verstanden, behandelt und möglichst geheilt werden. Der Schamane besaß alle Mittel, um Abnormität zu definieren und zu therapieren. Er konnte psychische Störungen diagnostizieren, ihren Ursprung erklären und Abhilfe schaffen.
Die populärsten Diagnosen beriefen sich auf einen bösen Geist, einen Schadenszauber oder eine Verwünschung, ein gebrochenes Tabu. Um die Krankheit zu behandeln, musste der Schamane durch Trance, Visionssuche oder Traumarbeit, wobei er womöglich ein psychedelisches Kraut oder einen Pilz zu Hilfe nahm, in die Geisterwelt eintreten. Heilrituale waren Singen, Tanzen, Fasten, Schwitzen, Schlafentzug. Der Schamane forderte den Patienten auf, zeitweilig aus der Alltagswelt heraus in seinen magischen Kreis einzutreten, wo sie gemeinsam mit den Geistern kämpften oder sie umschmeichelten, bis ein Abkommen erzielt wurde und der Weg zur Genesung frei war. Der Schamane besaß nicht nur wundersame Heilkräfte, sondern auch große Autorität, 3 und magischer Glaube und Suggestion können bekanntlich viel bewirken. Aber jenseits von allem Hokuspokus besaß er Pragmatismus, Einsicht in die menschliche Natur und Wissen um Heilpflanzen. Seine Kuren waren teuer, und der Schamane war der Reichste seines Stammes.
Die Priester und Götter
Die Domestizierung von Pflanzen und Tieren in den letzten zehntausend Jahren hat dem Menschen mehr Kontrolle über die Natur und eine umfassendere Vorstellung von seinem Platz darin verschafft. Der Animismus verschwand nie ganz, wurde aber teilweise durch ein Pantheon ersetzt, einen Himmel der Götter, die zwar unsterblich und mit außerordentlichen Kräften gesegnet waren, ansonsten aber sprachen und handelten wie jeder Erdbewohner. Bei den Ackerbauern war der Schamane so überholt wie der Köhler heute und wurde durch einen neuen Experten ersetzt, den Priester oder die Priesterin. In mancher Hinsicht unterschieden sich die Berufsbilder sehr, in anderen Aspekten ähnelten sie einander. Der Schamane war der Mittelsmann zur Welt der Geister gewesen, der Priester wurde nun zum Vermittler zwischen Menschen und Göttern; er behielt die magischen Geisterkräfte des Schamanen bei, erhöhte sie aber durch göttliche Autorität. Der Schamane war mobil und behandelte die Menschen überall, wo immer der Stamm sich während seiner nomadischen Wanderungen aufhielt – der Ort spielte keine Rolle, denn die Geister waren allgegenwärtig. Obwohl vergleichsweise reich, konnte er seine Habseligkeiten zeitlebens auf dem Rücken tragen. Der Priester hingegen war sesshaft, die Stätte seines Wirkens war ein Tempel auf heiligem Boden, der von den Göttern geweiht worden war, in der Regel in der Nähe einer Heilquelle. Wie es sich für eine florierende Gesellschaft von Ackerbauern und Viehzüchtern mit ihrem Überschuss an Wohlstand geziemte, waren die Heiligtümer oft prachtvoll ausgestattete Anlagen mit Bädern, einer Bibliothek, einem Gymnasion und einem Theater.
Im Grunde aber unterschied sich das Aufgabengebiet des Priesters nicht von dem des Schamanen: Er musste die Götter bei Laune halten und die Welt im Gleichgewicht, vernichtende Strafen abwenden, Nahrung herbeischaffen und Ernten begünstigen. Und er musste die Kranken versorgen, von denen viele an Beschwerden litten, die wir heute als psychische Störungen bezeichnen würden: Auch der Priester war sehr oft Seelenarzt.
Die griechische Götterwelt strotzt von Wahnsinnstaten, woraus wir eindeutig schließen können, dass psychische Störungen seit jeher die Menschheit beschäftigen. Wann immer sich jemand ungewöhnlich oder untypisch verhielt, entweder die Erwartungen übertraf oder aber nicht erfüllte, wurde göttliches Wirken als Ursache angenommen. Wenn ein Held durchdrehte – und das kam häufig vor –, lautete die Standarddiagnose: Die Götter haben ihn dazu gezwungen. Schon früh wurde abnormes Verhalten auf die Göttin
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