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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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neidischen Gesichter meiner schönen Klassenkameradinnen aus.
    Es blieb nicht bei Krokantbecher und Kakao. Manuel wohnte ganz in der Nähe, in der Breslauer Straße, genauso wie meine einzige Schulfreundin, und er erzählte mir die ganze Zeit über, wie hübsch ich wäre und dass er so natürliche Mädchen wie mich besonders mochte und was man jungen Mädchen eben sonst noch so erzählt. Wie im Glücksrausch ging ich mit ihm mit. Schon im Hausflur fasste er mir zwischen die Beine. Ich wand mich, aber ich wollte auch nicht spießig sein. Ich hätte gern einen Freund gehabt und wollte es nicht verderben. Vielleicht waren ja alle Männer so, woher sollte ich das wissen? Er blieb auf der Treppe stehen und lächelte nachsichtig, nahm meinen Kopf in seine großen Hände und küsste mich behutsam. Das war mein erster richtiger Kuss gewesen. Ich genoss diese Zärtlichkeit, den fremden warmen Mund, die weiche Nähe eines anderen Körpers. Ja, es gefiel mir. Ich war sechzehn, alt genug, wie ich fand. Seine Hand fuhr unter meine Bluse, dann in meine Hose. Nun öffnete er die Wohnungstür, schob mich sanft von hinten hinein, und schloss ab.
    »Komm her!«, sagte er.
    Als ich zögerte, Bedenken bekam, wegen der abgeschlossenen Tür, zog er mich bestimmend gegen sein Becken und küsste mich wieder – energischer diesmal. Ich schmeckte den Speichel seines Mundes, ließ ihn am Reißverschluss gewähren, fühlte seine Hände auf meinem nackten Po. Ich stöhnte. Es war mir peinlich, dass ich stöhnte. Alles war aufregend neu für mich. Auf einmal spürte ich seinen Gürtel um meine Hände! Trotzdem hielten seine Küsse an und ich empfand ein Gefühl zwischen Angst und Leidenschaft. Ich war sechzehn. Es war meine erste sexuelle Erfahrung.
    Als ich ging, fühlte ich mich wie eine Hure; nüchtern, erwachsen, beschämt … und schuldig, weil ich gestöhnt hatte.
    Manuel holte mich fortan von der Ausbildungsstelle ab, vom Sport ab, von der Fahrschule ab, drei Jahre lang und ich konnte nicht mit, und nicht ohne ihn leben. Er kleidete mich immer schon im Hausflur aus. Sein Gürtel zog sich von Mal zu Mal enger um meine Hände und zwischen den Küssen gab es nun auch Schläge. Ich ging mit immer mehr blauen Flecken nach Hause. Aber niemals im Gesicht. Meine Eltern merkten nichts. Wollte ich ihn verlassen, säuselte er von der Liebe, nach der ich mich sehnte, oder er drohte mir, dass er allen sagen würde, was ich Flittchen mit ihm getrieben hätte … schließlich würde es mir doch auch gefallen.
    Eines Tages hatte er ein neues Mädchen. Von da an war ich ihn los – gepflückt und fallen gelassen. Erst lachte und dann heulte ich, tagelang, wochenlang … und ich vermisste ihn.
    Liebe – was ist das? Gibt es Liebe zwischen Mann und Frau wirklich oder ist es nur eine Erfindung? Elf Jahre lang wagte ich danach keine Beziehung mehr, schämte mich für jeden sexuellen Gedanken. Männer? Ich weiß nicht recht, ob ich Männer seitdem hasse oder fürchte, für ihre Artverwandtschaft mit Manuel.
    Später traf ich Jens. Jens war anders, zurückhaltend, nachdenklich, verstört wie ich, lebensmüde, zärtlich … nur zärtlich … reizlos … Der hier, Alexander mit seinen Löckchen im Nacken, sah verdammt noch mal fast so aus, wie Manuel.
    »Was ist das hier eigentlich für eine Vereinigung? Sie sprachen eben von einer Mitgliedschaft.« Ich fragte gereizt, denn neben der anrüchigen Erinnerung bereitete sich der eben noch flüchtige Schmerz ein bleibendes Nest in meinem Schädel. Für diesen Tag, das erkannte ich verbittert, würde er ihn nicht mehr verlassen. Außerdem wollte ich schon längst raus sein aus diesem beklemmenden Haus. Was hielt mich denn hier?
    »Ja, das haben Sie richtig verstanden«, entgegnete Buchheim. »Wir sind eine Vereinigung. Ein eingetragener Verein sogar. Sie sitzen im Haus der Verlorenen, Verein für suizidgefährdete Menschen e.V. Wir selbst reden schlicht von Unserem Haus .«
    »Und Jens war hier Mitglied?«
    Verwundert, aber nicht zweifelnd, sah ich von einem zum anderen. Wirklich erstaunen sollte mich Jens' Mitgliedschaft in so einem Verein eigentlich nicht. Wahrscheinlich war er spontan, aus einer seiner vielen depressiven Launen heraus beigetreten. Meine Augen blieben an dem schwarzen Pullover dieses Alexanders haften, auch auf die Gefahr hin, dass er meinen Blick auf seinen muskulösen Brustkorb als Interesse auf sich selbst beziehen könnte. Verloren , die gleiche Aufschrift, wie die auf Jens' T-Shirt. Auch von

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