Notizen einer Verlorenen
meinen Schubladen und alten Kalendern nach Marcs Telefonnummer, bis ich sie schließlich in einem Telefonverzeichnis von 2009 fand. Solange hatten wir uns also schon nicht mehr gesehen. Kein Wunder, nach unseren Streitereien, gerade in der Zeit, als ich noch mit Jens zusammengelebt hatte.
Marc ging nicht ans Telefon. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er schon schlief, eher, wie er sich mit Freunden beim Bier verquatschte oder mit einem männerfressenden Vamp vergnügte, während es mir schlecht ging. Aus Trotz wählte ich seine Nummer mehrmals. Irgendwann musste der alte Klugscheißer doch ran gehen.
Vergeblich!
Am nächsten Morgen ging ich arbeiten. Das erste Mal seit jenem Tag. Es hätte mir gut tun können, wieder an etwas vollkommen anderes zu denken, im Büro zu sitzen, Rechnungen zu buchen und E-Mails zu bearbeiten, aber die Stimmung der Kolleginnen mir gegenüber war auch an diesem Tag nicht besser, als sonst. Sie vermieden jedes Wort mit mir. Wahrscheinlich wussten sie nicht, wie sie mit der ganzen Sache umgehen sollten. Natürlich! Ich wusste es ja genauso wenig.
Per Internet versuchte ich, etwas über dieses Haus der Verlorenen herauszufinden. Fehlanzeige! Nicht ein Hinweis auf den Verein, weder eine Webseite noch etwas über Günter Buchheim. Auch Alexander hatte keine Homepage, obwohl auf seiner Visitenkarte Atelier stand. Als ich seinen Namen in einer Suchmaschine eingab, fanden sich ein paar Treffer aus dem Kulturbereich. Anscheinend war er freischaffender Künstler … Maler oder so etwas.
Träume
Ich träumte von Jens. Ich träumte davon, wie er mich ansah, während er auf mich einredete und wir zusammen zu dieser Brücke gingen.
Im Traum wusste ich genau, was dort geschehen würde und nicht Jens zog mich , sondern ich ihn . Mit dem Wissen einer Täterin schob ich ihn an das Geländer der Brücke heran, redete nach außen hin belanglos mit ihm, während ich innerlich mit einem mörderischen Plan kämpfte.
Scheinheilig überredete ich Jens, auf das Geländer zu steigen, und er tat es einfach, wie es im Traum eben geschieht. Kaum stand er darauf, verlor er die Balance. Ich erschrak. Mein Gewissen brannte. Da streckte ich ihm die Hand entgegen, um ihm Halt zu geben – aber stattdessen stieß ich ihn an. Jens bekam Angst. Er ruderte mit den Armen, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, konnte sich gerade noch halten.
Als er wieder Fuß fasste, tat ich es – ich stieß ihn hinab und ich erschrak über mich selbst. Sein Schrei verhallte mit der Entfernung seines Körpers, bis er mit einem dumpfen Aufprall erstarb. Von der Brücke aus blickte ich ihm eilig nach. Marcs Cabrio quietschte und überrollte Jens. Ich betrachtete den blutend aufgeschlagenen Leib. Er musste tot sein. Das war gut so, denn ich wollte nicht, dass er mich beschuldigen konnte.
Zufrieden ging ich ein paar Schritte vom Geländer zurück, blickte auf und auf einmal entdeckte ich sie – die Passanten um mich herum, die mich entsetzt anstarrten. Ich war mir so sicher gewesen, dass ich alles andere um uns herum vergessen hatte. Als ich mit den Augen verzweifelt nach einem Fluchtweg suchte, kamen sie plötzlich näher und zogen einen engen Kreis um mich. In ihren Gesichtern erkannte ich Hass und Anklage …
Eine Weiche in meinem Leben
Die Einladung zu Jens' Beerdigung lag sehr bald in meinem Briefkasten. Im Grunde war ich froh, dass alles so schnell ging. Irgendwie hoffte ich, ich könnte meine Unruhe, die mich seit Jens' Tod beherrschte und die vermehrten Kopfschmerzattacken ganz einfach mit in dieses Erdloch werfen, um mich meinem alten Leben zuzuwenden. Eine naive Vorstellung, ich weiß. Jens wird niemals aus meinem Leben verschwinden und ebenso wenig die Umstände seines Todes. Sie werden mich verfolgen bis zu meinem eigenen Tod und, wer weiß, vielleicht noch weiter. Jens hatte eine Weiche in meinem Dasein verstellt und auf dem Weg in die Zukunft gibt es ja keine Rückkehr. Mein altes Leben gab es längst nicht mehr.
An dem nächsten Freitag ging ich dann zum Friedhof. Nicht ganz in Schwarz, aber mit einer schwarzen Jacke, die ich aus den hintersten Winkeln meines Kleiderschrankes hervorgekramt hatte. Für eine schnelle stille Beerdigung, wie ich hoffte. Wer sollte schon, außer mir und diesem unheimlichen Buchheim und vielleicht Alexander, vor der Leichenhalle auf mich warten?
Zu meiner Überraschung traf ich jedoch am Friedhof Marc an. In einem dunkelgrauen Trenchcoat lief er vor der Leichenhalle auf und ab. Ich
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