Notluegen
da, obwohl das vielleicht nicht zu sehen ist. Dieses »nichts« empfindet der Mann deshalb als erneuten Angriff auf seine Person, gleich einem kräftigen Schlag, aber nicht mehr draußen im Treppenhaus, sondern innerhalb der vier Wände seiner eigenen Wohnung.
Nichts gesehen.
Das ist Herrn Friedmanns Meinung von der Sache. Was hat dieser freche Mensch eigentlich hier zu suchen? Noch dazu in der Wohnung mit dem Hut auf dem Kopf? Außerdem kommt es dem Mann so vor, als ob Herr Friedmann ihm direkt ins Gesicht grinste, obwohl das nicht der Fall ist.
Hingegen streicht sich Herr Friedmann zum Ärger des Mannes weiter über seinen Bart, obwohl es dabei sicherlich nicht um die Brotkrumen geht, nichts also, fragt ihn der Mann, Sie behaupten, nichts zu sehen, und Herr Friedmann schüttelt den Kopf und sagt, nein, Sie sehen also gar nichts, wiederholt der Mann in Sorge um sein eigenes Gesicht, und auch das bestätigt Herr Friedmann, ich habe nichts gesehen, sagt er.
Nichts?
Nein. Absolut nichts.
Erst dieser Überfall, dieser widerliche Übergriff auf seine Person, und dann aufs Neue gekränkt zu werden, indem die erste Kränkung geleugnet wird, direkt in sein Gesicht, welches ja davon Zeugnis ablegt!
Von nahem sieht Herr Friedmann so aus, als wolle er so schnell wie möglich zu Frau und Kindern zehn Stockwerke weiter unten zurückkehren, als wäre er nicht aus Anteilnahme oder auch nur aus Höflichkeit hier in der fremden Wohnung im siebzehnten Stock, sondern um den Nachbarn zwingen zu können, ihm zu befehlen, sich zu entfernen, ein Wunsch, den der Mann entschlossen ist, ihm zu verweigern, aber da dieser Friedmann der Meinung ist, nichts gesehen zu haben, und vermutlich auch nichts sehen will, erkennt der Mann, dass jede Fortsetzung dieser Verbrechensaufklärung völlig sinnlos wäre, weshalb er Herrn Friedmann zur Tür begleitet und sich dort von ihm verabschiedet.
Gegen Ende der darauffolgenden Woche hatte sich der Mann einigermaßen erholt und sich wieder ins Lager begeben, wo er sich weigerte, zu kommentieren, was ihm zugestoßen war, ein so zugerichtetes Gesicht hätte ja sofort Anlass zu Fragen gegeben. Da die Untergebenen fast eine ganze Woche ohne Leitung und Überwachung gewesen waren, war die Arbeit an den Laderampen stark in Verzug geraten, einige waren noch nicht verstärkt und andere nicht einmal untersucht worden, weshalb die Arbeiter bald anderes zu tun hatten, als weitere Fragen zu stellen.
Noch eine Arbeitswoche ist vorüber, und als der Mann am Samstagabend nach Hause kommt und im siebzehnten Stock aus dem Lift steigt, findet er ein Kreuz an die Tür seiner Wohnung gemalt. Das Kreuz ist in Rot und schlampig gemalt, derjenige oder diejenigen, die es gemalt haben, müssen in Zeitnot gewesen sein, hier und da ist Farbe über die Tür gelaufen und dann auf den Boden des Korridors.
Der Mann empfindet das Kreuz als unheilverkündend. An und für sich könnte das, was er zunächst als Kreuz gedeutet hat, genauso gut einen Haken oder vielleicht sogar einen Stern darstellen, was er nicht mit Bestimmtheit beurteilen kann, doch lässt sich die Beschädigung und dieses für alle Nachbarn sichtbare Zeichen nicht verleugnen.
Den gesamten Samstagabend verwendet der Mann darauf, mit Terpentin und Lappen die Malerfarbe von der Tür zu entfernen. Als er endlich fertig ist, hinterlässt die Farbe doch eine Art Figur, die sich mit ein wenig Phantasie als Kreuz, Haken oder vielleicht Stern deuten lassen könnte. Die rote Farbe musste sich in das Holz der Tür hineingefressen haben und dort als ein dunklerer Schatten zurückgeblieben sein, ungefähr wie ein Wasserzeichen auf einem feinen Papierbogen.
Früh am Sonntagmorgen widmet er sich daher wieder der Tür, aber ohne größeren Erfolg; wer hier die Umrisse eines Kreuzes, Hakens oder Sterns sehen will, wird es weiterhin tun können, sosehr sich der Mann anstrengt.
Erst gegen Mittag gibt er auf.
Weniger als einen Monat nach dieser Beschmierung der Wohnungstür kommt die Frau des Mannes in New York an. Bevor er sie am Hafen abholt, kauft er eine Zeitung, in der er liest, dass der sogenannte Freund aus Stockholm wieder auf Besuch in Amerika ist, in der Zeitung gibt es sogar ein Bild des Freundes. Dieser Freund aber ist belanglos. Wichtiger ist, dass Mann und Ehefrau jetzt bald wieder zusammensein werden, in Manhattan.
Aber dem, was in der Zeitung steht, entnimmt der Mann auch, dass die Ehefrau und der sogenannte Freund, der frühere Liebhaber der Frau, mit demselben
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