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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Swartz
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gescheuertes und unreinliches Kleidungsstück. So nahe seinem Nachbarn vom siebten Stock, kann er die Brotkrümel in Herrn Friedmanns Bart sehen.
    Aus dem Inneren der Wohnung schlägt dem Mann eine Luft entgegen, die während des ganzen Wochenendes ein- und ausgeatmet worden sein muss. Schon in Europa hat er sagen hören, dass diese Menschen von Luft leben, ohne verstehen zu können, wie das geht. Andere hingegen hatten von ihnen als dem Volk des Buches gesprochen, und damit eine Hochachtung ausgedrückt, die ihm selbst fremd war; der einzige Grund dafür, dass er jetzt hier ist, ist ja der Überfall vom Samstag. Vielleicht könnte die Familie Friedmann doch etwas gesehen haben.
    Das Volk des Buches? Aber in jedem beliebigen Buch können sich Katastrophen ereignen, die Welt kann auf mehreren hundert Seiten untergehen oder auch nur auf einigen wenigen, und der Mann kann nicht umhin, ein Volk zu bedauern, das sich trotz seiner langen Geschichte keine bessere Gesellschaft aussuchen konnte als eben die der Bücher. Aber wenn Bücher der Seele wirklich Frieden schenken können, muss ein solches Volk doch darum beneidet werden, ihn sich so billig erkauft zu haben.
    Ja, Herr Friedmann, sagt er als eine Art Begrüßung. Sie trauen wohl Ihren Augen nicht. Aber Sie sehen selbst, was geschehen ist. In unserem Haus.
    Doch dieser schiebt den Nachbarn sanft, aber bestimmt ins Treppenhaus und zieht die Tür hinter sich zu, so dass sie zusammen hier draußen in dem schwach erleuchteten Korridor stehen bleiben, ein Ort, den der Mann für ein vertrauliches Gespräch absolut ungeeignet findet, weshalb er Herrn Friedmann bittet, ihn in den siebzehnten Stock zu begleiten, eine Einladung, die dieser akzeptiert, wenn auch nicht beantwortet, da er den Mann zum Lift begleitet, ohne Fragen zu stellen.
    Bitte treten Sie ein, sagt der Mann, als er die Tür zu seiner Wohnung öffnet, und nachdem er das gesagt hat, beginnt er auf einmal zu husten, sicher infolge des gestrigen Überfalls, sucht in seiner Jackentasche, ohne etwas zu finden, und während dieser Hustenattacke beobachtet ihn Herr Friedmann sehr genau, als wäre der Nachbar eine besonders augenfällige Stelle in einem Buch, wenigstens kommt es dem Mann so vor, aber ohne Anteilnahme oder Interesse.
    Unhöflich findet der Mann es außerdem, dass Herr Friedmann als sein Gast nicht das abnimmt, was er auf dem Kopf trägt; das muss wohl wieder so ein Aberglaube sein.
    Es heißt, dieses Volk sei das erste gewesen, das sich statt mehreren Göttern einen einzigen Gott hielt, aber hätte sich diese Tradition auch auf die Kopfbedeckung erstreckt, wäre der Mann der erste, eine solche Religion zu bedauern. Jemand anders als Gott musste Herrn Friedmann dieses fettige Käppchen aufgesetzt haben, vermutlich er selbst oder seine Frau, dass Gott mit dieser Sache etwas zu tun hätte, wäre für den Mann wiederum reiner Aberglaube. Ein Hut ist doch immerhin ein Hut.
    Doch ist Herr Friedmann selbst offenbar anderer Meinung; und der Mann erinnert sich daran, wie einfache Menschen die Gewohnheit haben, sich an Gott zu klammern, während andere sich Reitpferde oder Jagdhunde halten, bis sie ihnen brüsk weggenommen werden. Dennoch waren ihm die Pferde nicht ebenso lieb wie die Mahlzeiten, die früher gewöhnlich auf Ausritte oder Jagden folgten, fast genauso lieb wie die Worte, die sein Vater bei solchen Gelegenheiten von der anderen Seite des Tisches an ihn zu richten pflegte.
    Sie sind natürlich noch nie hier gewesen, sagt der Mann, und darauf antwortet Herr Friedmann nichts.
    Der Mann beschließt, von hinten anzufangen.
    So darf es doch nicht zugehen, sagt er. Sollten Leute wie Sie und ich überhaupt keine Rechte haben? Können wir nicht von Amerika verlangen, mit Respekt behandelt zu werden?
    Herr Friedmanns Gesicht ist sehr bleich, ein eingefallenes und jetzt gegen Abend fast aus sich selbst heraus leuchtendes Gesicht, feierlicher in all der umgebenden Schwärze als während der Tag- und Arbeitszeit. Er streicht sich über den Bart, zwei- oder dreimal, aber zerstreut, wie eine alte Frau eine dumme Katze streichelt, die sie auf dem Schoß hat.
    Sehen Sie sich nur dieses Gesicht an, sagt der Mann. Was sehen Sie?
    Ich habe nichts gesehen, sagt Herr Friedmann.
    Dieses »nichts« erscheint dem Mann wie eine Beleidigung, ein grobes Leugnen dieses seines geschwollenen, in langen Rissen zersprungenen Gesichts, das sofortiger Pflege bedürfte, zudem so dicht vor Friedmanns eigenem. Auch Zähne fehlen hier und

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