November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
»Wenn du mir einen Gefallen tun willst, Hanna. Dein Vater hat grüne Wickelgamaschen. Ich brauch’ Zivil.« »Ich gebe sie dir.« »Lange kann ich nicht bleiben. Hanna, ich habe auf zwei geschossen. Sie suchen mich.« Sie ließ ihn nicht los, sah erst jetzt sein unrasiertes beschmutztes Gesicht, holte einen Strohhalm aus seinem Haar: »Du hast geschossen.« »Sie haben den Oberst niedergeschlagen mit dem Kolben. Er schlug ihrem Häuptling, als er frech wurde, ins Gesicht.« »Und du?« »Sie waren zu fünf, beim Oberst. Wie er umfiel, schoß ich. Zwei sind getroffen. Die andern rückten aus. Ich zum Fenster hinaus.« »Du bleibst hier!« »Deine Eltern?« »Ich bring dich in die Mädchenkammer.«
Sie gingen über den Teppich des Wohnzimmers, das Fräulein voran, er kehrte um: »Meine Sachen.« Dann über den Korridor, durch die Küche, die Hintertreppe hinauf, rechts die Tür, in der der Schlüssel steckte. Sie öffnete, es war eine schmale Kammer mit Fenster nach den Feldern hinaus, ein Bett, ein Stuhl, knarrende blanke Holzdielen, eine grüne Petroleumlampe auf dem Tisch. Sie schloß hinter sich: »Laß den Schlüssel stecken. Mach die Läden zu, dann sieht man das Licht nicht.« »Kommt das Mädchen nicht her?« »Wir haben keins.«
Sie stieß das Fenster auf, klappte die Läden zu, man stand im Finstern. Sie umarmten sich lange. Er flüsterte: »Verzeih, Hanna, ich mach’ dir Ungelegenheiten.« Sie fühlte ihn zittern, sie wußte, er dachte gar nicht an sie. »Jetzt setzt du dich auf das Bett. Nachher ziehst du dich um. Ich bring’ dir Sachen von Vater. Erst sollst du etwas essen.«
Sie war weg. Als sie mit dem Tablett wiederkam, zog er sie, da sie nicht sehen konnte, am Arm herein, nahm ihr das Tablett ab. »Wann kommen deine Eltern?« »Das kann bis zum Abend dauern. Sie sitzen in der Stadt zusammen.« »Ah, die Einheimischen, das Franzosenkomitee.« Sie zündete die Kerze an, die sie mitgebracht hatte. Er half ihr das Tablett abräumen. »Dank dir. – Du bist auch eine Einheimische. Du bleibst hier.« »Ich bin deine, Hans, und will es bleiben.« »Ich werde dich nicht in unser Unglück hineinziehen. Sei froh, daß du hierbleiben kannst. Bei uns wird es hoch hergehen.«
Sie saßen auf dem Bett. »Jetzt iß.« »Du ißt mit?« »Ja.« Als sie fertig waren und die Gläser leer standen, war er gesättigt und zitterte nicht mehr. Er saß mit schlaffen Schultern: »Ich werde mich auf den Weg machen, wenn es dunkel ist.« »Wie du willst. Den Nachmittag bleibst du.« Sie drückte das Licht aus.
Ihr schwarzes Kleid raschelte auf den Boden. Sie weinte, wie sie zusammenlagen: »Du wirst mich vergessen.« »Du hast meine Adresse in Berlin. Schreib mir über die Schweiz, sonst fangen sie die Briefe ab. Ich hab’ einen Freund in Bern. Vielleicht bin ich schon übermorgen in Berlin.« »Und dann.« »Ich werde dich holen.« »Kann ich nicht gleich mitkommen?« »Sie suchen mich, Hanna.«
In der stillen Villa, in der Kammer, Tränen, Hingabe, Wonne, Verzweiflung. Hanna stieß den Laden auf, es war finster, der Regen strömte. Im Haus schloß man. Sie war bald unten. Die Eltern stritten laut miteinander, sie kamen vom Empfangskomitee für die Franzosen, das sich beim Bürgermeister gebildet hatte. Die Tochter gähnte bei Tisch, die Mutter meinte, sie solle sich schlafen legen. Es goß weiter. Man öffnete ein Fenster, um zu hören, ob noch in der Stadt geschossen würde. Aber es blieb still. Sie aßen und tranken ohne Wort. Die Tochter betrachtete den Vater, er war stärker als Hans, aber die Größe konnte passen. Nach einer halben Stunde erhob sie sich.
Gegen zehn ließ sie den Offizier zur Hintertür heraus. Sie flüsterte: »Da ist ein Pförtchen, brauchst nur aufzustoßen.« Er wanderte rasch ab unter dem geöffneten Regenschirm.
Sie hatte inzwischen in der Stadt den Provisor besucht, ihren früheren Verlobten. Erst stand er schweigend im Hinterzimmer der Apotheke mit seiner schwarzen Lederschürze vor ihr, es roch scharf süßlich im Raum. Sie kannte dies Hinterzimmer gut. Dann bat er sie, sich zu setzen, sie trug auf seinem Schemel noch einmal leise vor, was sie wollte. Da hob er seinen Blick von dem Linoleumbezug des Tisches. Sie schlug ihre Regenkappe zurück, senkte ihren Kopf und weinte. Es brauchte Minuten, bis er sich überwand und zusagte. Der Offizier solle gleich herüberkommen, er würde ihn im Wagen der Apotheke morgen nach Straßburg bringen.
An der Flurtür, bevor sie sich die Kapuze
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