Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
Vom Netzwerk:
sofort mit seinen Krücken auf seinen Stuhl: »Der sitzt schon den ganzen Nachmittag hier, er hat Angst, sie kommen zu ihm.«
    Sie: »Fang du auch damit an.« Sie suchte in ihrem Rock, drei Mark und fünf Mark.

    Auf dem Weg über den Hof warf der Pfarrer zwei Fetzen Papier, die er zufällig in seiner Jackentasche fand, in die Regentonne: ein altes Briefkuvert und ein zerknittertes Seidenpapier von einem Kuchen. In der Regentonne lagen sie vier Tage mit anderem Schmutz, bis die Tonne von der Frau neben den Müllhaufen hinter dem Haus entleert wurde. Da geriet das alte Kuvert mit der Schrift eines Sohnes des Pfarrers, der seinen baldigen Urlaub aus Polen ankündigte, und das Seidenpapier neben Kohlstrunk, Aschenreste, zerbogenes Blech. Das bildete einen kleinen langsam wachsenden Hügel. Das Kuchenpapier zerfaserte in der Nässe, die Trümmer sickerten in den Boden mit den Wassertropfen. Die Schrift des Pfarrersohnes war bald verwischt, das Kuvert lag noch monatelang in dem Abfall, als der Pfarrer schon längst im Hessischen, in seinem Heimatsort saß und auf neue Verwendung wartete. Damals standen auch seine Möbel noch im Vorderhaus am selben Fleck, und er führte einen Prozeß um die Auslieferung. Im Juli kam aus dem Wald eine wandernde Rattenfamilie am Haus vorbei, es lagen viel Obst- und Kartoffelschalen herum, sie fraßen auch Lederabfälle – denn der gelähmte Mann fühlte sich im Sommer kräftiger und schusterte –, bei dieser Gelegenheit zerknabberten die jungen Ratten auch das Briefkuvert an den Pfarrer aus Grodno.

Montag, der 11.November
    Die Nacht über war der Himmel schwarz. Ein unsichtbarer Mond warf aus seinem Versteck ein magisches Licht auf einige Wolken, die sich schwer unter ihm hinschleppten. Als der Morgen dämmerte, setzte wie am Vortage ein scharfer eisiger Wind ein, der Himmel wurde reingefegt, er war weißgrau, als die Stadt erwachte. Hier und da knatterten Schüsse. Es wurde ein strahlend heller Vormittag. Die Leute gingen auf die Straße wie an einem Festtag. Sie stellten sich auf dem Marktplatz, am Bahnhof, in der Hauptstraße an dem Warenhaus in Gruppen zusammen. Man war fröhlich und nahm die Kinder mit. Der Krieg war unzweifelhaft aus.
    Der Provisor war schon früh nach Straßburg gefahren, um Diphterieserum zu holen. Er hatte mit dem Offizier, der neben ihm in dem engen Wagen saß, kein Wort gewechselt, das Pferdchen lief flott, man hielt sie nicht an, vor Straßburg legitimierte er sich und seinen »Gehilfen«. Am Broglieplatz machte sich der Offizier seinem Nachbar bemerkbar, er wolle absteigen. Sie verbeugten sich im Sitzen steif gegeneinander, der Offizier sprang ab, sofort zog das Pferd wieder an, der Wagen fuhr schlank weiter.

    Leutnant von Heiberg irrte durch die Stadt Straßburg. Der herzbeklemmende Anblick zerlumpter Soldaten. Fortsetzung der Schreckensszene von gestern. Er beachtete nicht das unbekümmerte Leben der alten Stadt, das sich langsam in Bewegung setzte, die Läden, die sich öffneten, die Elektrischen, die sich durch die engen Straßen wanden. Plakate an den Häusern mußte er anstieren, immer ein und dasselbe, er las es an fünf Stellen Wort für Wort wieder und begriff nicht: »Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Thron zu entsagen.« Elf Worte, der Satz verschluckte alles, was er denken konnte. Was die Depesche später sagte, kam nur undeutlich an ihn, genauer der Schluß: »Druck von M. Dumont Schauberg, Straßburg im Elsaß, Einzelexemplar zehn Pfennig.«
    Er trieb sich in der Innenstadt herum, drängte über eine kleine Brücke hinter den St.-Thomas-Platz und strich den Finkweilerstaden entlang, als ihm jemand von rückwärts kräftig auf die Schulter schlug. Heiberg fuhr zusammen, drehte sich und stand vor einem freundlich grinsenden älteren Soldaten, der greulich aussah. Seine ganze rechte Gesichtsseite war dick verschwollen, unter dem Auge bläulich rot, vom Auge selbst sah man nur eine schräge Linie, sonst verschwand es in einer schwarzen Schwellung. Aber der Mann lachte, sowohl mit der freien linken Seite wie, freilich weniger, mit der schrecklichen rechten. Er streckte Heiberg die Hand hin, die eben so markig zugeschlagen hatte und verkündete auf gut berlinisch: »Morjen.« Heiberg roch den Betrunkenen, gab ihm die Hand, die der mit beiden Pranken drückte. Und das Gesicht dicht an das übernächtige von Heiberg geschoben, hauchte der Mann: »Brauchst keine Angst zu haben, Heiberg. Ich tu’ dir nischt. Kennst mir wohl nicht, mit

Weitere Kostenlose Bücher