Novemberasche
bedauerliche Kreaturen, aber man kann sich
nicht zu jedem, der sich in der Gosse wälzt, dazulegen.«
Sommerkorn betrachtete Martìn aufmerksam. Der Mann sah so vernünftig aus, die Art, wie er sprach, warkühl und bedacht, und doch schien hinter seiner Stirn, hinter der unbeweglichen Maske, die sein Gesicht war, eine gewisse
Leidenschaft verborgen.
»So einfach ist es leider nicht immer.«
»Was haben diese Menschen schon für einen Grund? In dieser vom Wohlstand und Wohlsein zersetzten Gesellschaft, in der wir
leben, ist das grundlegende Problem der Überfluss – und der Überdruss.« Martìn sah Sommerkorn gerade in die Augen.
»Schauen Sie sich die Jugendlichen in diesem Land an. Oder viele von ihnen. Sie haben keine Ideale mehr. Keine richtigen Ziele.
Sie wollen Spaß haben. Durch die pädagogische Verweichlichung, die an unseren Schulen praktiziert wird, wird den Kindern etwas
vorgegaukelt. Sie glauben an die Schimäre, dass das Leben sie in Watte packt. Doch das Fatale an diesem Übermaß an Verständnis
ist doch, dass die Jungen es überdrüssig werden. Glauben Sie allen Ernstes, dass die Freiheit, die Option, alles tun zu können,
glücklich macht?«
Sommerkorn, der noch dabei war, diesen plötzlichen Redeschwall und die dahinter offensichtlich verborgenen Emotionen einzuordnen,
reagierte nicht gleich. Sein Blick glitt über die Einrichtung und blieb erneut an den Fotos hängen. Alle steckten in schwarzen
Holzrahmen von derselben Größe und alle waren Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Einige davon zeigten Leander in weißem Kampfdress.
»Leander war im Karate?«
»Er war Kreismeister.«
»Wo hat er trainiert?«
»In Friedrichshafen. In einem privaten Karateclub.« Als hätte er bereits zu viel gesagt, wandte er sich abrupt ab und ging
zur Tür. »Ich lasse Sie jetzt Ihre Arbeit tun. Deshalb sind Sie schließlich gekommen.«
Mit diesen Worten ging Martìn hinaus, und Sommerkornstand allein in diesem seltsam anachronistischen Raum. Durch die Glastüren, die zu ebener Erde auf eine Terrasse führten,
fielen schräg die Strahlen der Nachmittagssonne und tauchten den Schreibtisch des toten Jungen und die Deutschlandkarte in
ein goldenes Licht. Unwillkürlich fielen Sommerkorn die Zeilen eines Gedichts ein, das er einmal gehört hatte:
Wir können die Minute/In ihrem Netz aus Gold/Nicht einsperren.
Er schluckte. Wie zerbrechlich das Leben doch war. Er dachte an Paula. Auch ihr Leben war von einem Tag auf den anderen zerbrochen.
Und dort oben warten zwei Menschen auf mich, ein Mann und eine Frau, deren Sohn tot ist. Er trat zum Schreibtisch, setzte
sich und sah sich um.
Ein Junge, der Junge, dem dieses Zimmer gehört hat und der nach Aussage seines Vaters nichts weniger im Sinn gehabt hat als
Drogen, stirbt, nachdem er eine Überdosis K.-o.-Tropfen verabreicht bekommen hat, indem ihm jemand ein Kissen oder irgendetwas
anderes auf das Gesicht drückt. Er sitzt auf einem Friedhof, mit dem Rücken an ein Grab gelehnt. Seine Handgelenke sind verletzt,
und alles deutet darauf hin, dass jemand ihn mit Stacheldraht gefesselt hat. In seinem Mund steckt ein Zettel.
Sommerkorn zog die Schreibtischschubladen auf und inspizierte den Inhalt. Auch hier dieselbe mustergültige Ordnung: Schreibutensilien,
Blöcke, Hefte, eine Unmenge handbeschrifteter CDs, allesamt Gruppen, die Sommerkorn nicht kannte, ein iPod. In einem Bücherschrank
hauptsächlich Literatur über den Zweiten Weltkrieg, Afrikafeldzug, Fliegergeschichten … Dann wandte er sich dem Wandschrank zu, schob die Schiebetür auf und warf einen Blick in Leanders Schulunterlagen, Hefte,
Ordner, die allesamt durch eine Perfektion bestachen, die beinahe unwirklich war. Sommerkorn dachte an seine eigenen Kritzeleien,
die er damals als Schüler angefertigt hatte, angefangenbeim Schriftbild bis hin zu den Durchstreichungen und Kugelschreiberklecksen. Leander Martìn hatte ausschließlich mit Füller
geschrieben, die Überschriften hatte er unterstrichen, und Sommerkorn entdeckte weder Kaffee- noch Schokoladen- oder Fettflecke.
Zum Schluss ging er noch einmal sämtliche Schubladen und Fächer durch, in der Absicht, Leanders Laptop und auch sein Handy
zu finden. Aber seine Bemühungen blieben ohne Erfolg. Er ging zur Tür, blieb dort stehen und sah sich noch einmal um. Sein
Blick streifte die Fotos und blieb am zweiten Bild in der mittleren Reihe haften. Er trat näher und erkannte Leander mit ein
paar Freunden,
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