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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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allesamt Jungen in seinem Alter, die sich gegenseitig die Arme über die Schultern legten. Kameradschaftlich.
     Er nahm das Foto von der Wand, und plötzlich wusste er, was ihm an Leander an jenem Abend auf dem Friedhof aufgefallen war.
     Die Art und Weise, wie er gekleidet war, sein Haar. Noch einmal ließ Sommerkorn den Blick von einem Jungen zum anderen wandern.
     Nein, es gab keinen Zweifel. Diese fünf Personen auf dem Foto sahen aus wie   … Er würde das Bild Barbara zeigen. Sie hatte ein Gespür für solche Dinge. Und sie würde ihm sagen, wenn sie den Gedanken
     für ein Hirngespinst hielt.
     
    ☺
     
    Vor allen Dingen ist es wichtig, nicht doof zu sein, sagt ER.   Denn mit den Doofen kann man die Straßen pflastern. Man kann doch nicht hingehen und bei einer Parteiversammlung den Holocaust
     leugnen. Wo doch unser ganzer Staat und die Presse dermaßen verfilzt sind. Man muss clever sein. Und langsam anfangen. Und
     das Allerletzte wäre es, sich mit den Glatzköpfen zu verbrüdern. Man hat ja gesehen, wie weit sie mit ihrer Haudrauf-Methode
     gekommen sind. Im Grunde wollen sie ja das Richtige. Aber dieMethoden sind die falschen. Clever und effizient müsse man vorgehen. Die Sache einfach durchziehen, den Weg gehen, Stück für
     Stück, in kleinen Schritten. Dann kommt man irgendwann ans Ziel.
    Gestern Nacht haben wir die Plakate verteilt und Faltblätter in Briefkästen geworfen. Sicher ist es richtig, so vorzugehen.
     Man muss den Leuten mal sagen, wie es WIRKLICH ist. In der Zeitung wird man das nie lesen. Die sind doch alle korrumpiert.
     
    *
     
    Von ihrem Platz aus hatte Marie den ganzen
Marmorsaal
im Blick. Die hohe Kassettendecke, den mächtigen Kristallleuchter, die Säulen mit den schmalen Spiegeln, die rings um das
     Lokal verlaufenden braunen Lederbänke sowie das skurrile Bild mit der Christusdarstellung über der Theke. Marie rührte Zucker
     in ihren Roibuschtee. Lieber hätte sie einen Latte macchiato getrunken, aber der hätte ihr randvoll mit Koffein gefülltes
     Fass zum Überlaufen gebracht. Sie hatte den Überblick verloren, wie viel Espresso sie in den letzten achtundvierzig Stunden
     gekocht hatte. Nach nur drei Stunden Schlaf in der vergangenen Nacht brannten ihre Augäpfel, als säßen kleine Sandkörnchen
     unter ihren Lidern, sie war blass, und dunkle Schatten lagen unter ihren Augen.
    Sie hatte sich nicht getraut, Paula und die Kinder allein zu lassen, war zu sich nach Hause gerast, während Sommerkorn Paula
     Gesellschaft leistete und mit den Kindern Mensch-ärgere-dich-nicht spielte. In fieberhafter Eile hatte sie ihre Arbeiten zusammengesammelt,
     damit sie am nächsten Tag alles dahatte, was sie beim Termin mit der Galeristin brauchen würde. Am Abend war sie nicht mehr
     dazu gekommen, die Arbeiten durchzusehen. Sie hatte damit warten müssen, bis die Kinder im Bett waren, was gedauerthatte, weil Marie ihnen bis halb elf zuerst
Pinocchio
und dann
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
vorgelesen hatte. Die beiden Geschichten hatten zu einem langen Gespräch über den Tod und den Himmel geführt.
    Das Leben der Mädchen war schmerzhaft durchgerüttelt worden, und sie, Marie, mühte sich in dem kläglichen Versuch ab, die
     herumliegenden Einzelteile, allesamt Trümmer, zusammenzusammeln, während Paula dabei war, vollkommen in der Trauer um ihren
     Mann zu versinken.
    Als die Mädchen schließlich eingeschlafen waren, hatte Marie sich an ihren Zeichentisch gesetzt und ihre Mappe für den nächsten
     Tag sortiert. Natürlich waren ihr dabei einige Unvollkommenheiten an ihren Werken aufgefallen, und so hatte sie fast die ganze
     Nacht mit Ausbesserungen zugebracht.
    Sie nahm einen Schluck. Heiß und süß lief der Tee ihre Kehle hinunter und löste ein wenig die Anspannung, die sie seit heute
     Morgen in ihren Klauen hielt. Was machst du dich so verrückt, schalt sie sich selbst. Das ist nicht der erste Galerist, dem
     du deine Arbeiten zeigst. Du hast doch schon mit viel unangenehmeren Leuten zu tun gehabt, und zudem bist du zu lange im Geschäft.
     Eine andere, giftige Stimme schaltete sich ein und raunte ihr zu: Ja, das war aber auch
davor
. Da hast du noch in München gelebt, mit deinem Partner, mit dem du nicht nur die Wohnung, sondern auch deine Einkünfte geteilt
     hast. Damals hattest du kein heruntergekommenes Haus am See, das du unbedingt halten wolltest. Und dessen Dach dringend neu
     gedeckt werden muss, weil es hineinregnet!
    Sie nahm noch einen Schluck und

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