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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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blickte in das Lächeln der Mona Lisa am anderen Saalende. Aus einem Lautsprecher dudelte Musik,
     eine Mischung aus lateinamerikanischem Jazz mit fernöstlichen Klängen. In dem Lokal wurde geraucht, die Stimmung war locker
     und gelöst.Marie atmete ein. Sie verspürte auf einmal das brennende Bedürfnis nach einer Zigarette. Obwohl sie nicht rauchte, hatte sie
     manchmal einen ganz plötzlich auftretenden Drang, eine Zigarette zwischen den Fingern zu halten, den Rauch einzusaugen und
     das Brennen in jeder Faser ihres Körpers zu spüren. Marie nahm sich vor, wiederzukommen, hier ein paar Stunden zu sitzen,
     in dieser groovigen, rauchgeschwängerten Atmosphäre. Sie würde hierherkommen, wenn sie nichts vorhatte, die Zeit vergammeln,
     in den Regen schauen, vielleicht ein Buch lesen oder mit Paula bei einem Milchkaffee den Nachmittag verquatschen. Paula. Sie
     schluckte. Da drängte sich ein anderer, befremdlicher Gedanke auf. Wie es wohl wäre, mit Sommerkorn hier zu sitzen? Die Stimmung
     gäbe den perfekten Hintergrund für einen Abend zu zweit, einen vielversprechenden Abend. Besonders jetzt, im beginnenden Advent,
     wo das Lokal so stimmungsvoll dekoriert war. In den drei Fenstern hing je ein roter, mit Ornamenten verzierter Leuchtstern
     aus Papier, auf einem halbhohen gemauerten Raumteiler, der den Saal in der Mitte trennte, standen drei ausladende Glasvasen,
     gefüllt mit roten Weihnachtskugeln und goldenen Tannenzapfen.
    Warum ihr der
Marmorsaal
wie ein Ozeandampfer vorkam, konnte Marie nicht sagen. Sie war noch nie auf einem gewesen. Und
Titanic
hatte sie auch nicht gesehen. Vielleicht lag es am Blick aus dem Fenster, daran, dass sie von ihrem Platz aus den See und
     den Lindauer Leuchtturm sehen konnte, der so etwas wie eine seemännische Botschaft in den Spätnachmittag blinkte. Oder an
     der Hafenmauer, die wie mit Glitzersteinen besetzt schien. In diesen Tagen des zur Neige gehenden Jahres war Licht eine Kostbarkeit,
     die man genießen musste. Das hatte Marie heute Morgen, als der Tag mit einem Lächeln begann und sie einen langen Spaziergang
     im Sonnenschein gemacht hatte,auch getan. Zu ihrer Überraschung waren am Mittag Wolken aufgezogen, die sich aber rasch wieder verflüchtigt hatten, und so
     hatte sie auf ihrem Weg vom Parkplatz noch die letzten schrägen Strahlen erwischt, bevor sie in den behaglichen Schatten des
Marmorsaals
getaucht war.
    Die Tür wurde von einer Hand aufgedrückt, eine ältere Dame erschien auf der Schwelle. Es war nicht die, auf die Marie wartete.
     Sie schob ihren Ärmel hoch und sah auf die Uhr. Kurz vor halb fünf, um vier war sie mit Marlene Kattus verabredet gewesen.
     Vielleicht war ihr etwas dazwischengekommen, und Marie wartete ganz umsonst? Sie nahm den letzten Schluck Tee und blickte
     zuerst in Richtung Tür und dann durchs Fenster ins Freie. In der heraufziehenden Dämmerung sah Marie Mützen vorbeiwandern,
     eine rote und eine weiße. Durchs linke Fenster schaute der Löwe, der über der Hafeneinfahrt thronte.
    Die Kellnerin trat an Maries Tisch, und sie bestellte nun doch einen Latte macchiato. Bis fünf warte ich noch, dann fahr ich
     wieder. Zu dumm aber auch, dass sie zwar ihr neu erworbenes Mobiltelefon dabeihatte, aber nicht Marlene Kattus’ Nummer. Sie
     warf einen Blick auf die beiden Schachspieler am Nebentisch, zwei junge Männer, die besser in eine Disko gepasst hätten. Die
     beiden waren ganz in ihr Spiel versunken, der eine, ein südländischer Typ, saß regungslos da, der andere, ein großer Dunkelblonder,
     wippte mit dem Fuß. Der ist so nervös wie ich, dachte Marie und griff hinüber zu der Mappe mit den Kreidezeichnungen, die
     neben ihr ans Sofa gelehnt stand.
    Wochenlang hatte Marie an den Seebildern gearbeitet, hatte jeden Tag eines gezeichnet. Es war ihr gelungen, die verschiedenen
     Stimmungen des Sees einzufangen. Gestern Nacht, als sie die Bilder nebeneinander aufgereiht hatte, hatte sie den See, den
     sie so gut kannte, in allen seinenFacetten wiedererkannt: mal milde und gütig im milchigen Licht des Herbstes, mal zauberhaft und unwirklich im pudrigen Sonnenschein,
     in dem einzelne Mücken über die Oberfläche taumelten, zu einem letzten Tanz. Auf einigen wirkte die Luft klar und der See
     lebendig, ja, hellwach, wenn ein See so sein konnte, wie von Atem beseelt, von einer großen Reinheit, die auch sie beim Zeichnen
     erfasst hatte. Am besten aber gefiel Marie das wütende Gesicht des Sees, wenn er dunkelblau und brodelnd

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