Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
tot.«
    Marie sah sie an. Erik, Paulas Mann, an ihn hatte sie gar nicht gedacht.
     
    *
     
    Der Tote saß an einen Grabstein gelehnt, und seine Augen starrten in den Regen, der stetig fiel und für die Ewigkeit gedacht
     schien. Sommerkorn ging einmal um das Grab herum, den Blick beständig auf die reglose Gestalt geheftet.Der Mann, der fast noch ein Junge war, sah so aus, als habe er sich hier niedergelassen, um einen Augenblick der Ruhe, ja,
     der Weltabgeschiedenheit zu zelebrieren. Ein anachronistischer Byron, dachte Sommerkorn und korrigierte seinen Gedanken. Nein,
     kein Byron, dazu hat er die falsche Frisur. Wenn die Frau, die ihn gefunden hatte, etwas genauer hingesehen hätte, so wäre
     ihr aufgefallen, dass der junge Mann nicht, wie von ihr angenommen, unter Drogen stand, sondern dass der Regen in blicklose
     Augen fiel, über ein Gesicht rann, als wollte er es reinwaschen.
    Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit bereits getan. Der Erste Kriminalhauptkommissar Andreas Sommerkorn war spät erreicht
     worden, da er in einem anderen Fall, einer Serie von Bränden in diversen Dönerbuden, unterwegs gewesen war. Nun stand er hier
     auf dem Friedhof, in der Dunkelheit und bei Regen, und blickte auf das vom Scheinwerferlicht beleuchtete Bild, das an die
     Gemälde von Goya erinnern mochte. Die Grabsteine und Kreuze warfen bizarre Schatten, und der Tote schien für eine unheimliche
     Szene in einem Film ausgerichtet zu sein.
    Sommerkorn betrachtete ihn. Er war noch jung, keine zwanzig, und sein Gesicht war makellos und wächsern, wie das einer Schaufensterpuppe.
     Sommerkorn war es, als steckte er in einem hartnäckigen Traum fest; die Situation war völlig surreal. Es war ein absonderlicher
     Anblick, der Regen, die Schatten, die Leiche waren wie für ein Kunstwerk arrangiert, für eine – wie nannte man dieses moderne
     Zeug noch gleich   –, ja, für eine Installation.
    Es war der Arzt, Dr.   Bender, der in Sommerkorns Traum hineinsprach. Er hatte etwas abseits gestanden und mit Hasenberger von der Spurensicherung,
     seines Zeichens mürrischster Mitarbeiter der Polizeidirektion Friedrichshafen, und dem Fotografen gesprochen.
    »Guten Abend, Hauptkommissar – auch wenn dieUmstände, unter denen wir uns wiedersehen, nicht die besten sind.« Dr.   Bender, einer der Ärzte, die von der Polizei bei Todesfällen ohne Fremdverschulden gerufen wurden, lächelte zurückhaltend,
     wie es seine Art war. Wenn Hasenberger der Mürrischste von allen war, dann war Bender der Feinsinnigste.
    »Guten Abend, Dr.   Bender«, entgegnete Sommerkorn und deutete mit dem Kinn auf den Toten. »Drogen?«
    »Sieht ganz so aus. Zumindest stand er vor seinem Tod unter dem Einfluss von Drogen. Man braucht sich nur die Pupillen anzuschauen.
     Allerdings   …« Bender bewegte sich ein paar Schritte auf den Leichnam zu, beugte sich hinunter und schob die Hemdsärmel des Jungen ein
     Stück hoch.
    Sommerkorn betrachtete die nackten Handgelenke, die eigenartige Schnitte und Kratzer aufwiesen. »Machen so was auch Jungen?«
    »Wenn Sie damit meinen, ob auch Jungen sich selbst Verletzungen beibringen bzw. sich ritzen, wie das im Jargon heißt, dann
     kann ich Ihnen sagen, dass diese Domäne weitgehend weibliche Anhänger hat. Allerdings sehen diese Verletzungen hier nicht
     danach aus. Zu gleichmäßig. Sehen Sie.« Er nahm die Handgelenke des Toten und hielt sie nebeneinander hoch.
    »Das ist merkwürdig. Sieht fast aus wie ein   …«
    »Muster?«
    Die beiden Männer sahen einander an. Der Arzt zuckte die Achseln.
    »Was glauben Sie, wie alt er ist?«, fragte Sommerkorn.
    »Noch keine zwanzig. Aber ein paar Jahre auf oder ab   … Das ist bei manchen schwer zu sagen.«
    »Und wie lange ist er schon tot?«
    »Eine vorläufige Schätzung? Mindestens vierundzwanzig Stunden, der Rigor Mortis löst sich bereits.«
    »Also ist er möglicherweise in der letzten Nacht gestorben?«
    »Möglicherweise.«
    In dem Moment trat Hasenberger zu ihnen. Sommerkorn nickte ihm knapp zu, der Techniker nickte knapp zurück.
    »Irgendwelche Ausweispapiere?«, fragte Sommerkorn ihn.
    »Nein. Dieser hier hat zur Abwechslung mal keine um den Hals hängen.«
    Auf diese bissige Bemerkung sagte Bender nur: »Ich werde dann mal«, und verschwand im Regen.
    »Ja, bis dann«, sagte Sommerkorn über die Schulter hinweg und wandte sich wieder dem missmutigen Kollegen zu.
    »Das hier steckte in seiner Jackentasche.« Hasenberger hielt Sommerkorn die eingetüteten

Weitere Kostenlose Bücher