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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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glauben machte, dass
     auf seinem Grund ein erzürnter Wassermann hauste. Einer, der den Menschen grollte, wie auch Marie an manchen Tagen der Welt
     grollte.
    Die Tür ging ein weiteres Mal auf und herein kam eine Frau ungefähr in Maries Alter. Sie tat ein paar Schritte in den Raum
     hinein, ihr Gang war wiegend, aus der Hüfte heraus. Wie auf einem Laufsteg, dachte Marie unwillkürlich. Die Frau sah sich
     um, sie schien jemanden zu suchen. Ihre Augen blieben an Marie hängen. Sie taxierte sie kurz und kam dann langsam auf sie
     zu. Ihr Blick war durchdringend, ihr Haar dunkel und gelockt, es glänzte und bildete einen dramatischen Gegensatz zu ihrem
     Teint, der so auffallend hell war, dass die Frau an die Ufa-Stars der zwanziger Jahre erinnerte. Warum schaut sie mich so
     an, dachte Marie und strich sich übers Haar. Der Regen hatte ihre Locken ganz wirr gemacht, und ihr Haar stand in alle Himmelsrichtungen
     ab. Die Frau kam näher und blieb vor dem Tisch stehen.
    »Marie Glücklich?«, fragte sie mit einer Stimme wie Kristall.
    »Ja, das bin ich.« Marie sah zu der Frau auf, die ihr eine Hand entgegenstreckte, die sich kalt anfühlte und einen vagen Händedruck
     spüren ließ.
    »Helen Kattus. Meine Mutter ist leider verhindert.« Ein nochmaliger prüfender Blick, dann legte die Frau ihreTasche auf den Tisch und begann, ihren Mantel aufzuknöpfen.
    »Das sind ja zwei ganz süße«, sagte die Frau mit ihrer seltsam klaren Stimme und deutete auf zwei dicke goldene Putten aus
     Pappmaché, die von der Decke herunterhingen. Sie ließ sich Marie gegenüber nieder. Die Kellnerin kam und wurde von Helen Kattus
     mit einem knappen Kopfschütteln wieder weggeschickt. Sie schenkte Marie ein kurzes Lächeln und vertiefte sich in die Karte.
     Ihre schlanken Hände lagen auf der Getränkekarte, die Ärmel ihrer Samtjacke waren eng anliegend und zum Ende hin leicht ausgestellt,
     so dass sie ihre Hände wie eine Glockenblume umschlossen. Der Anblick dieser Frau hatte etwas Ätherisches, das perfekt in
     dieses kultige Lokal passte. Oder war es andersherum? War der
Marmorsaal
die perfekte Bühne für die Frau, die Marie gegenübersaß?
    Helen Kattus klappte die Karte zu und winkte der Kellnerin. Ihre Gesichtszüge sind wie gemeißelt, dachte Marie. Perfekt geschwungene
     Augenbrauen, lange schwarze Wimpern, der Mund war zart, ein kleines Herz. Wie Marie bestellte auch Helen einen Roibuschtee
     mit Vanillearoma.
    »Meine Mutter hat mir von Ihren Arbeiten erzählt. Die Idee, eine Ausstellung zu machen, bei der ein und dasselbe Motiv sich
     in Variationen wiederholt, ist ein Konzept, das wir bisher noch nicht hatten. Meine Mutter hat sich ja schon ein paar Ihrer
     Arbeiten angesehen. Ich bin gespannt«, sagte Helen und lächelte Marie an. »Aber vielleicht möchten Sie mir vorher noch etwas
     von sich erzählen, ich weiß ja gar nichts über Sie.«
    »Ja, natürlich. Ich habe an der Akademie der Bildenden Künste in München studiert, Malerei und Grafik und später noch Bühnenbild.
     Ich war einige Zeit in Italien und habe dort bei Mario Gigi gelernt. Irgendwann habe ich mich auf Illusionsmalerei spezialisiert
     und begonnen, mitverschiedenen Materialien und Techniken zu experimentieren. Seit zehn Jahren arbeite ich als freischaffende Künstlerin – bisher
     allerdings hauptsächlich im Münchner Raum. Ich bin noch nicht lange hier.«
    »So? Was hat Sie denn in die Provinz verschlagen?«, fragte Helen, stützte ihr Kinn in die Hand und musterte Marie aufmerksam.
    »Der Wunsch nach Veränderung«, entgegnete Marie. Sie verspürte nicht die geringste Lust, dieser Frau, die aussah, als sei
     sie einem Hochglanzmagazin entstiegen, von ihren großen und kleinen Niederlagen zu berichten. Helen machte nicht den Eindruck,
     als habe sie große Erfahrung darin, betrogen und verlassen zu werden. Der Kleidung nach zu urteilen, auch nicht gerade so
     wie eine, die es – wie Marie – nötig hatte, für ein besseres Taschengeld in einer drittklassigen Galerie zu stehen und zu
     warten, bis irgendjemand sie betrat, um ein Werk des »Wildest Boy Alive« zu erwerben. Dann musste man Sätze ertragen wie »Die
     Bilder sind pure Malerei und wollen nichts anderes sein«. Ja verdammt nochmal, was könnten sie denn sonst wollen?
    Die Kellnerin brachte den Tee. Helen schenkte der Frau ein kühles Lächeln und wandte sich wieder Marie zu. »Aber nun zeigen
     Sie mir doch Ihre Arbeiten. Sie haben mich neugierig gemacht.«
    Marie rückte Gläser,

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