Novemberasche
…«
»Allerdings?«
»Das ist bei einem so erfahrenen Springer etwas seltsam.«
»So seltsam, dass es nie vorkommt?«
»Nein, nein, solche Sachen passieren. Routine kann ja auch zu Schlamperei führen. Und wenn einer beim Fallschirmspringenetwas falsch macht, dann sind die Folgen eben gravierend. Insgesamt gesehen passiert dennoch ziemlich wenig.«
»Also kommt es sozusagen fast nie vor, dass ein erfahrener Springer vergisst, den Sicherungsautomaten auf die richtige Höhe
einzustellen?«
»Doch, doch. Vor ein paar Jahren in Höxter zum Beispiel. Dann dieser Politiker, Möllemann, der ist beim Cypres-Check nochmal
rausgegangen – angeblich, um ein Glas Wasser zu holen. Er wollte wohl die gegenseitige Kontrolle umgehen.«
»Wollen Sie damit sagen …«
»… irgendwie erinnert sich niemand richtig. Aber alle, die mitgeflogen sind, sind sich ganz sicher, dass sie Eriks Cypres nicht
kontrolliert haben. Wissen Sie, ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht …«
»Ja?«
»Es ist schon möglich, dass Erik das Cypres absichtlich nicht umgestellt hat.«
»Aber warum hätte er denn so etwas tun sollen?«
Jojo zuckte die Achseln, schüttelte stumm den Kopf und trank den letzten Schluck aus seiner Tasse. Sommerkorn betrachtete
den Mann. Aus ihm würde er nicht mehr herausbekommen. Warum hätte Erik so etwas tun sollen? Er hatte doch keinen Grund. Oder
etwa doch?
☺
Ich war bei IHM zuhause! ER hat ein echt cooles Zimmer, so eines habe ich noch nie gesehen. Keine Rockbands oder Sportler
an den Wänden, kein Chaos, keine leeren Büchsen, kein Müll. ER sagt: Die Ordnung der Welt fängt bei jedem Einzelnen an. Das
ganze Haus ist super und riesig. Die haben einen Riesenpool, einen Riesengarten. ER sagt, so etwas kann jeder haben. Manmuss es nur zulassen. Wir müssen daran arbeiten, die Welt zu dem Ort zu machen, den wir haben wollen.
Und ER hat Mut. Neulich am Bahnhof hat er so einem Typen, der doppelt so breit war wie ER – aber alles Muskeln –, seine weggeworfene Kippe wiedergegeben. »Du hast was verloren!« Ihn kotzen die ganzen Chaoten an, hat er gesagt. Und die
Erde wäre ohne sie besser dran.
*
Am späten Vormittag ging bei der Polizeidirektion Friedrichshafen eine Vermisstenanzeige ein, die ein wenig Licht ins Dunkel
bringen und die Identität des Toten vom Friedhof klären sollte. Seltsamerweise wurde die Anzeige nicht von Angehörigen des
Verschwundenen aufgegeben, sondern von einer Lehrerin des Karl-Maybach-Gymnasiums in Friedrichshafen. Tatsächlich stellte
sich wenig später heraus, dass es sich bei dem Toten um den siebzehnjährigen Leander Martìn handelte, der die zwölfte Klasse
des Karl-Maybach-Gymnasiums besucht und der mit seinen Eltern in Kressbronn-Berg gewohnt hatte. Die Klassenlehrerin, Studienrätin
Rosemarie Bärlach, die Leander Martìn in Deutsch und Geschichte unterrichtet hatte, war verwundert gewesen über die unentschuldigte
Abwesenheit des Schülers. Sie hatte Leanders Freunde befragt, die allesamt keine Auskunft geben konnten und ebenso verwundert
waren wie Bärlach selbst. Nach Rücksprache mit zwei weiteren Lehrern und dem erfolglosen Versuch, die Eltern zu kontaktieren,
entschied sie, die Angelegenheit der Polizei zu melden.
Als die Identifizierung des Toten durch die Lehrerin seine Identität bestätigte, gelang es der Polizei auch, die Eltern ausfindig
zu machen. Der Vater, der einen Posten in einer der oberen Etagen bei
Tognum
innehatte, befand sich geradeauf einer Geschäftsreise in den USA, die Mutter auf einem dreiwöchigen Wellnessurlaub auf Gran Canaria. Die darauffolgende
Inaugenscheinnahme des Leichnams durch den Vater, der mit dem nächsten Flug nach Hause kam, brachte die endgültige Bestätigung.
Was bei der Rückkehr des Vaters für einige Verwirrung sorgte, war die Tatsache, dass sich eines der Fahrzeuge der Martìns
nicht wie erwartet in der Garage des Anwesens in Kressbronn-Berg befand. Der schwarze Porsche Cayenne wurde daraufhin zur
Fahndung ausgeschrieben und noch in derselben Nacht auf dem Betriebsparkplatz der
ZF
in der Nähe des
Bodenseecenters
sichergestellt.
Der Anruf des Gerichtsmediziners erreichte Sommerkorn kurz nach der Morgenbesprechung, als er – den Kopf voll mit imaginären
Stichpunkten einer To-do-Liste in Sachen Dönerbudenbrände – auf dem Weg in sein Büro war. Dr. Fassbinder war ein Mann, den Sommerkorn noch während des Studiums an der
Weitere Kostenlose Bücher