Nukleus
gesehen haben, oder nur der Wahnsinn eines verkorksten Pubertierenden, den wir uns lieber als Werk des Bösen vorstellen, um nicht zugeben zu müssen, dass Menschen zu allem fähig sind? Und war dieser verkorkste Jugendliche nicht auch mal ein guter Mensch? Ist es gut oder böse, wenn Ihr Dr. Auster lieber jemanden sterben lässt, der in seinem gegenwärtigen Zustand ohnehin praktisch tot ist, als zu riskieren, dass Ihnen etwas zustößt?«
»Denken Sie nicht, er wäre wie Sie.«
»Kennen Sie ihn so gut? Jeder trägt eine Maske. Sie können nie wissen, was Sie finden, wenn Sie hinter diese Maske schauen.«
Ella trat auf ihn zu, so dicht, dass ihre Körper sich fast berührten. »Es gab mal eine Zeit, da dachte ich, jeder x-beliebige Fremde wüsste mehr über ihn als ich. Ist noch gar nicht so lange her. Aber jetzt denke ich das nicht mehr. Ich weiß allerdings ziemlich genau, was ich finde, wenn ich hinter Ihre Maske schaue, Cassidy. Hinter dem blutigen Gesicht eines Mörders sehe ich den nächsten Mörder und dahinter noch einen und noch einen, und keiner von denen wird mehr die Gelegenheit erhalten, sich in einen Geheimagenten mit der Lizenz zum Töten und Pensionsanspruch zu verwandeln.«
Sie riss das rechte Knie hoch und rammte es ihm mit aller Kraft zwischen die Schenkel. Er gab einen Laut von sich, als müsste er sich übergeben. Er presste die Lippen gegeneinander, sein Gesicht lief rot an, und die hellblaue Iris seiner Augen wirkte plötzlich wie gesprungenes Glas. Langsam krümmte er sich nach vorn. Er presste den Arm in der Schlinge gegen den Bauch. Seine Hände öffneten sich, das Aufnahmegerät fiel zu Boden, gefolgt von dem blutverschmierten Taschentuch, aber Ella hob nur das Gerät auf. »Mal sehen, was Ihre Kollegen draußen auf dem Gang davon halten«, sagte sie.
Sie sah zu, wie er in die Knie brach und dann auch noch zur Seite kippte, einfach umfiel.
Sie war schon fast an der Tür, als sie ein metallisches Klicken hörte, und sie wusste, dass hinter ihr der Hahn eines Revolvers gespannt worden war. Sie drehte ich um. Cassidy lag immer noch auf dem Boden. Den Revolver hielt er in der gesunden Hand, die Mündung war auf sie gerichtet. »Auch auf die Gefahr hin, dass Sie mich jetzt wieder für böse halten«, sagte er stöhnend, »muss ich Sie trotzdem bitten, das Aufnahmegerät zurückzugeben und mir hier Gesellschaft zu leisten, bis wir wissen, welche Entscheidung Dr. Auster getroffen hat.«
6 7
Die Blutgeschwulst in Annikas Gehirn füllte den ganzen Bildschirm aus. Julian führte den Sauger an das Hämatom heran. Zuerst streifte er es nur, die Augen auf das Mikroskop gepresst, wie um zu testen, welchen Widerstand es ihm entgegensetzen würde. Er regulierte die Sogstärke und berührte es noch einmal. Fleming legte ihm einen Dissektor in die ausgestreckte Hand und führte sie mit dem Instrument in die Schädelöffnung, bis Julian die Spitze vor dem Objektiv sehen und selbst lenken konnte.
Ella starrte auf den Bildschirm. Das wäre eigentlich meine Aufgabe, dachte sie beunruhigt; ich sollte ihm assistieren und dafür sorgen, dass er wie ein Arzt handelt und nicht wie ein Mörder.
Der Lautsprecher übertrug jedes Geräusch aus dem OP, und sie hörte sogar Flemings Atem laut wie Windstöße durch die Polypen in seinem Nasenraum fegen. Cassidy lehnte mit dem Rücken an der Tür zum Gang, den Revolver in der Jackentasche. Selbst auf diese Distanz spürte sie die drängenden elektrischen Signale, mit denen er sie mehr als mit der Waffe in Schach zu halten versuchte. Spürte, wie sie ihre Haut nadelten und die Luft um sie herum mit zerstörerischer Energie aufluden, bis sie ein Gefühl hatte, als fingen die winzigen Härchen auf ihren Armen an, sich zu kräuseln.
Gib auf, sagte jeder feine Nadelstich, stör unsere Pläne nicht, nur ein kleines Zucken mit dem Sauger oder dem Dissektor, und alles ist geritzt, und die Frau da auf dem Tisch wird bis an ihr Lebens ende nichts anderes mehr von sich geben als Pieptöne, Bleistiftkurven und hohles, rhythmisches Pochen, also sei brav und lass uns zum Ende kommen.
Ella fragte: »Was haben Sie ihm geboten? Nimmt er heimlich Drogen, verkauft er sie? Haben Sie versprochen, ihn nicht anzuzeigen? Hat er einen Kunstfehlerprozess am Hals, bei dem wichtiges Beweismaterial verschwinden wird?«
»Viel einfacher«, sagte Cassidy. »Seine Klinik steht vor der Pleite, die kirchlichen Träger wollen sich zurückziehen. Der MI6 hat versprochen einzuspringen, mit Geld
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