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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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entferne jetzt ein paar Knochensplitter«, erklärte er. »Sauger!«
    Ella reichte ihm den Sauger, dann spähte sie auch wieder durch ihr Okular, blickte tief in die lautlose, glitzernde Welt von Annikas Gehirn, den Kern ihres Universums. Julian saugte etwas zerfetztes Gewebe ab, um das Knochenstück, das er herausholen wollte, so weit wie möglich freizulegen. Ein Äderchen riss, etwas Blut trat hervor. Er tauschte den Sauger gegen die elektrische Pinzette. »Strom!«
    Ella trat auf das Fußpedal für die Stromzufuhr. Die Arme der Pinzette fassten die Öffnung des Äderchens vor dem Objektiv des Mikroskops und klemmten sie zusammen. Rauch stieg auf. Julian legte die Pinzette zurück und griff wieder nach dem Sauger. Er berührte den Knochenspan, aber nichts geschah. Er musste den Sog verstärken, allerdings nicht so heftig, dass dadurch gesundes Hirngewebe angesaugt und zerstört wurde. »Etwas mehr!« Noch immer geschah nichts. Er zog den Rüssel des Saugers zurück.
    Niemand reißt, zerrt oder zieht im Gehirn, hatte er Ella einmal er klärt. Man lockt, man tastet, man streift, man streichelt, man schmeichelt.
    Der silberne Rüssel schwebte über einem anderen Span, berührte ihn, wanderte zu einem dritten. Er sank auf den dritten hinab, berührte ihn sanft wie ein Schmetterlingsflügel. Der Span löste sich aus seinem Bett, ohne dass Blut hervorquoll. Julian zog Sauger und Pinzette aus dem Wundtrichter und ließ den Span in ein Schälchen fallen, ehe er weitere Knochenstückchen aus dem Bereich der Splittermasse entfernte. Jetzt sickerte doch wieder Blut aus einigen Gefäßen. »Spülen!«
    Ein Wasserstrahl überschwemmte den Operationskanal, danach saugte Julian zerstörtes Gewebe ab und konzentrierte sich weiter auf die versprengten Knochenpartikel. Jeder noch so kleine Span verlangte äußerste Vorsicht. Sacht und doch nachdrücklich versuchte er, sie aus ihren Lagern zu locken.
    Die Temperatur im OP war niedrig, aber Ella spürte, wie ihr der Schweiß den Oberkörper herunterlief. Sie hob die Augen von der Gummiblende des Okulars und bemerkte, dass auch Julian stärker schwitzte. Sie nahm ein Tuch und tupfte ihm die Feuchtigkeit von Stirn und Schläfen, den Wangenknochen, dem ganzen Gesicht zwischen Haube und Mundschutz. Er sagte: »Ich bin jetzt dicht am Hirnstamm. Blutdruck in Ordnung?«
    Dr. Fleming nickte. Julian presste die Augen wieder auf die Okulare. Er steuerte das Mikroskop jetzt mit dem Mundhebel, damit er beide Hände frei hatte. Der Lichtkegel des Punktstrahlers drang tief in das Gehirn unter seinen Händen und ließ die Farben dieser zarten Welt erstrahlen, empfindlich wie Seidenpapier, in der sich die Gedanken, Worte und Erinnerungen der Patientin befanden.
    Ein Moment der Unaufmerksamkeit, und du zerstörst in diesem Menschen die Schönheit der Schöpfung selbst, auch das hatte Julian einmal zu Ella gesagt. Die Brückenvenen, die das Kleinhirn mit dem Tentorium verbanden, spannten sich. Sie wirkten wie dicke Taue, an denen das Kleinhirn nach der plötzlichen Druckentlastung durch das Absaugen hing. Julian korrigierte den Sitz der Spatel, um mit dem Objektiv noch tiefer hineinfahren zu können.
    Dann kam das Hämatom zum Vorschein. Eine Geschwulst aus Blut und zerrissenem Zellgewebe, die den Hirnstamm wegdrückte und fast bis zur Arteria basilaris reichte. Sie umschloss die Kleinhirnschlagader wie ein Tumor. Das Krisengebiet. Alles lag scharf konturiert und trügerisch massiv unter dem Objektiv – das dunkelrote Blutgerinnsel, dahinter der zusammengepresste Hirnstamm und der mächtige Schlauch der Arteria basilaris. Nur der in der linken Großhirnhälfte stecken gebliebene Granatsplitter war nicht zu sehen.
    »Sauger und Dissektoren«, verlangte Julian. »Ich beginne mit der Arbeit am Hämatom.«
    Seine Stimme klang heiser, und Ella blickte kurz auf, um ihm die Instrumente zu reichen. Er sah nicht auf ihre Hände, sondern zum Vorbereitungsraum hinüber, an dessen Fenster jetzt wieder DI Cassidy stand und hereinstarrte. Cassidys Augen waren geweitet, voller hypnotischer Kraft. Um seinen Kopf wirkte die Dunkelheit dichter als überall sonst im OP, denn in seinen Pupillen brannte ein magisches Leuchten, das Julian wie in ein elektrisches Feld einzuhüllen schien.
    Im selben Moment verließ Dr. Fleming seinen Platz am Kontrollpult zur Narkoseüberwachung und sagte: »Doktor Bach, würden Sie mir wohl einen Moment Ihren Platz am Mikroskop überlassen?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, drängte er sich

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