Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
auf und ging hin und her. »Das ist doch absurd.«
»Nein, das ist meine Mutter«, sagte Sheila nüchtern. Sie stellte sich ihm in den Weg und sah ihn eindringlich an. »James, ich habe Sie noch nie um etwas gebeten.«
»Dann wäre jetzt auch nicht der richtige Augenblick, damit anzufangen!«
Sie hatte ihn mit einem schwer zu deutenden Blick angesehen, und einen Moment lang hatte er befürchtet, sie wolle ihn mit Tränen umstimmen. Doch dann hatte sie sich abgewandt und war in der Küche verschwunden. Zehn Minutenspäter war sie mit einem Teller Gurkensandwiches wieder aufgetaucht und hatte fröhlich über den neuen Hund der Nachbarin geplaudert, als sei nichts geschehen.
In den nächsten zwei Wochen hatte sie ihn nicht mehr auf die Kreuzfahrt angesprochen. Genau genommen, hatte sie sich überhaupt nicht mehr bei ihm gemeldet und war auch nicht ans Telefon gegangen. Als er einmal bei ihr anklingelte, hatte sie zwar die Tür geöffnet, jedoch behauptet, gerade das Haus verlassen zu wollen, um Besorgungen zu machen.
Am Ende der zweiten Woche hatte er Sheilas Mutter einen Brief geschrieben, in dem er ihr mitteilte, dass er sich sehr auf die Reise freue.
Kapitel 2
»Lassen Sie uns reingehen«, sagte Sheila, »ich bin gespannt auf unsere Kabinen!«
»Wo steckt eigentlich Ihre Mutter?«, fragte James und sah sich um.
»Keine Ahnung. Ich könnte mir vorstellen, sie ist schon in ihre Kabine gegangen, um sich fürs Dinner fertig zu machen. Auch gut möglich, dass sie bereits mit Jeremy im Salon sitzt.«
»Jeremy?«, fragte James, während sie zu ihren Kabinen gingen.
»Ihr geschiedener Mann«, erläuterte Sheila.
»Er ist mit an Bord? Wie außergewöhnlich. Ihre Mutter scheint noch viel für diesen Jeremy übrig zu haben, wenn sie ihn zu dieser Reise eingeladen hat.«
»Andersherum wird ein Schuh draus. Jeremy hat noch immer viel für meine Mutter übrig. Er bezahlt das alles hier, ihm gehört das Schiff.«
James war perplex. »Er hat ihr diese Reise geschenkt? Und bezahlt auch gleich die Reise für die Gäste?«
»Das war Jeremys Geburtstagsgeschenk für sie: eine Kreuzfahrt auf der Victory, zu der sie so viele Gäste einladen durfte, wie sie wollte. Ich hatte Ihnen doch erzählt, dass die Männer meiner Mutter allesamt in Geld schwimmen. Dasgilt besonders für Jeremy. Er ist der Dagobert Duck unter ihren Männern.«
»Und Ihre Mutter fand es in Ordnung, dieses Geschenk anzunehmen?«
Sheila lachte. »Ja, warum nicht? – Ach James, ich weiß, es klingt reichlich skurril, aber Sie werden es verstehen, wenn Sie meine Mutter besser kennen. Sie ist sehr großzügig, und das wiederum zieht Großzügigkeit bei anderen an. Wenn sie Geld hat, gibt sie es mit vollen Händen wieder aus. Fast, als würde sie sich davor ekeln.«
»Eine Einstellung, die sich nicht jeder leisten kann«, sagte James nüchtern.
»Ich weiß, ich weiß. Aber es ist nicht so versnobt, wie es sich vielleicht anhört. Ich habe früher mal eine Freundin gehabt, die psychisch krank war«, erklärte Sheila. »Manischdepressiv. In den manischen Phasen konnte sie die ganze Welt erobern, war begeistert vom Leben, hatte großartige Pläne, steckte alle mit ihrer Begeisterung und ihrer Energie an. Einmal hat sie sich einen offenen Jaguar gekauft, ist damit bis nach Marbella gefahren und hat eine Woche lang gefeiert, bis allmählich aufflog, dass sie gar kein Geld hatte und für das alles mit einer – sagen wir mal: geliehenen – Kreditkarte bezahlte.«
»Hoffentlich nicht mit Ihrer?«, warf James ein.
»Nein.« Er kannte diesen Seitenblick.
»Nein?«
»Ach James, das tut doch jetzt nichts zur Sache. Sie gehörte meiner Mutter, wenn Sie es genau wissen wollen. Jedenfalls, auf diese manischen Phasen folgte unausweichlich eine Depression, in der sie sich von der Welt zurückzog, morgens weinend aufwachte und nicht einmal dieKraft hatte aufzustehen. Diese Freundin hat mich immer an meine Mutter erinnert.« Sheila sah James an und lächelte. »Allerdings fehlt bei Mutter die depressive Phase. Sie ist sozusagen dauernd manisch, für sie ist das Leben ein einziger Höhenflug. Und sie hat es nicht nötig, sich fremde Kreditkarten auszuleihen.«
»Das muss anstrengend sein«, sagte James.
Sheila schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist sehr vital.«
»Ich meine, für Sie, Sheila. Es muss anstrengend gewesen sein, ihre Tochter zu sein.«
»Das ist es immer noch.« Sheila leckte ihren Finger und versuchte, eine Laufmasche am linken Bein zu stoppen, die
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