Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
selbst. Die drei wirkten, nicht zuletzt wegen der Kahlköpfigkeit des jüngeren Mannes, wie eine hochbetagte Kleinfamilie. Der alte Herr stützte sich auf einen Stock und trug ein hellgrundiges, türkis kariertes Jackett, das einen viel getragenen Eindruck machte. Entweder hat er keinen Geschmack, überlegte James, oder er gehört zu denjenigen Angehörigen der Oberschicht, die ihre Exklusivität nicht nur durch teure Kleidung unterstreichen, sondern sie auch durch gezieltes Abweichen vom allgemeinen Schönheitsempfinden vor Nachahmern bewahren. Der jüngere Mann trug einen nagelneuen, allerdings nicht besonders gut sitzenden dunkelblauen Anzug.
»Jeremy Watts«, sagte der Herr im groß karierten Jackett und streckte James souverän lächelnd die braun gebrannte Hand entgegen.
»James Gerald«, erwiderte James, während der andere ihm fest und routiniert die Hand schüttelte. Der forschende Blick seines Gegenübers blieb an James’ Rolex hängen.
»Schöne Uhr«, bemerkte er. »Sammlerstück, habe ich recht? Lassen Sie mich raten: Oyster Perpetual, 1953?«
»1955«, korrigierte James. »Sie kennen sich gut aus.«
»Ein Steckenpferd von ihm«, erklärte Phyllis. »Ich glaube, er besitzt genauso viele Uhren wie Krawatten.«
»Falsch«, lächelte Jeremy. »Ich habe mehr Uhren als Krawatten. Von alten Krawatten kann ich mich trennen, von alten Uhren niemals. Phyllis hat mir viel von Ihnen erzählt, James. Besser gesagt, vorgeschwärmt. Es freut mich sehr,dass Sie mit an Bord sind. Wir werden uns alle prächtig amüsieren.«
»Darf ich Ihnen meinen Mann vorstellen«, sagte Phyllis, wobei sie den jüngeren Mann am Arm packte und etwas nach vorn zog.
Der glatzköpfige Herr im dunkelblauen Anzug reichte James ebenfalls die Hand. »Eden Philpotts. Freut mich, Mr Gerald.«
James schüttelte ihm erstaunt die Hand. Sheila hatte nicht erwähnt, dass ihre Mutter aktuell verheiratet war, noch dazu mit einem Mann, der gut und gerne zwanzig Jahre jünger war als sie. Aber Phyllis schien immer für eine Überraschung gut zu sein.
Sheila war inzwischen auch hinzugetreten. »Die Kabinen sind fantastisch, Jeremy.«
Jeremy verbeugte sich. »Das freut mich zu hören, Sheila, meine Liebe. Wenn etwas nicht zu eurer Zufriedenheit sein sollte, zögert bitte nicht, euch an Mr Chandan zu wenden, er ist für die Dauer der Reise einzig und allein für das Wohl der Geburtstagsgesellschaft zuständig.«
»Er brüstet sich zwar damit, Gedanken lesen zu können«, sagte Phyllis, »aber ich würde trotzdem lieber auf Nummer sicher gehen und es ihm sagen, wenn ihr etwas braucht. Über die Rufnummer 89 ist er rund um die Uhr für euch erreichbar, Jeremy hat ihn ebenfalls auf unserem Flur einquartiert.«
»Schön, Phyllis, aber wenn du weiter Vorträge hältst, kommen wir noch zu spät«, sagte Jeremy ungeduldig. »Wir wollten euch nur Bescheid geben, um 19 Uhr trifft sich unsere Gruppe im Captain’s Corner zum Meet and Greet. Anschließend wird das Dinner serviert.«
»Captain’s Corner ist ein kleiner Raum hinter dem großen Restaurant im 9. Stock«, erläuterte Phyllis. »Dort sind wir unter uns, und wir werden am Tisch bedient.«
Jeremy lächelte James zu und hielt seinen Stock hoch. Mahagoni mit silbernem Griff und Intarsien aus Elfenbein, dachte James. »Die Nahrungsbeschaffung am Buffet ist doch recht mühselig«, sagte Jeremy, »wenn man wie ich Schwierigkeiten hat, sein Gleichgewicht zu halten, besonders auf einem Schiff.«
»Schade«, murmelte Sheila. In einiger Entfernung folgten sie Phyllis, Eden und Jeremy, die vor ihnen den langen, schmalen Korridor entlanggingen. »Ich liebe Buffets. Jetzt sitzen wir den ganzen Abend am Tisch fest.«
»Ja, schade«, stimmte James ihr zu. Er hatte nichts für Selbstbedienung übrig, aber in diesem Fall behagte auch ihm die Vorstellung nicht, für die Dauer des Abendessens, das sich mindestens zwei Stunden hinziehen würde, Gefangener des kleinen, exklusiven Captain’s Corner zu sein. »Sehen wir es positiv. Wenigstens bleibt uns der Anblick anderer Menschen am Buffet erspart.«
»Wie meinen Sie das?«
»Meiner Erfahrung nach gibt es am Buffet zwei Arten von Menschen«, erklärte James. »Die Entscheidungsneurotiker, die alles aufhalten, und die Gierigen, die sich so viel auf die Teller häufen, als gäbe es kein Morgen. Und das Schlimme daran ist, dass diese beiden Gruppen sich gegenseitig verstärken. Weil die Gierigen in der Schlange sich so viel aufhäufen, sind die
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