Nullzeit
eben ohne Meerblick. Die Inselregierung, fuhr ich fort, habe den Bauplatz inmitten eines der größten Vulkangebiete freigegeben, ohne sich um die Erschließung zu kümmern. Lahora besitze keinen Bauplan. Keine Straßennamen. Keine Kanalisation. Genau genommen besitze Lahora außer mir und Antje auch keine Einwohner. Lahora sei eine Mischung aus Bauruine und Geisterstadt, eine Variation auf die unklare Grenze zwischen Noch-nicht-fertig und Schon-wieder-verfallen.
Tatsächlich hatten die Spanier längst aufgehört, an ihren halb fertigen Häuschen herumzubasteln, und saßen stattdessen auf ihren mit Schwemmholz eingezäunten Terrassen, während der salzige Wind den Putz von den Wänden nagte. Hölzerne Kabeltrommeln dienten als Tische, gestapelte Baupaletten als Sitzbänke. Lahora war ein Endpunkt. Ein Ort des Stillstands. Möbliert mit Gegenständen, die anderswo längst auf dem Müll gelandet wären. Das Ende der Welt.
Wir saßen im Auto und schauten über die flachen Dächer, auf denen Wassertanks, Solarzellen und Satellitenschüsseln versammelt waren, bis hinunter zur ersten Häuserreihe, die bei Flut fast mit den Füßen im Wasser stand. An diesem Ort, versprach ich, würden sie einzigartige Ruhe finden. Die Eigentümer der Häuser kämen, wenn überhaupt, nur an den Wochenenden.
Zum Abschluss meiner kleinen Ansprache verkündete ich zwei Regeln für den Aufenthalt: Nicht schwimmen und nicht spazieren gehen. Die kleine Bucht sei bei jeder Wetterlage ein Hexenkessel, und die Vulkanfelder brächen unbelehrbaren Wanderern regelmäßig die Knöchel. In Lahora könne man sitzen, übers Meer schauen und die nördlich vorgelagerten Inseln betrachten, die wie schlafende Tiere im Dunst zwischen Wasser und Himmel kauerten. Außerdem seien sie schließlich zum Tauchen hier. Täglich würden wir zu den besten Tauchplätzen der Insel fahren, und wenn sie zusätzlich ein paar Sehenswürdigkeiten besuchen wollten, stünde ich wie verabredet als Chauffeur und Reiseführer zur Verfügung.
Sie hörten gar nicht zu. Sie hielten sich an den Händen, betrachteten Dorf und Ozean und wirkten vollständig versunken. Sie fragten nicht wie andere Kunden, warum ich mich an einem so entlegenen Ort niedergelassen habe. Sie plapperten nicht von früheren Tauchabenteuern. Als Jola mir das Gesicht zuwandte und die Sonnenbrille abnahm, waren ihre Augen feucht, was, wie ich glaubte, vom Wind herrührte, der durchs offene Seitenfenster fuhr.
»Ausgesprochen schön hier«, sagte sie.
Ich fröstelte und ließ den Motor an.
Heute kommt es mir vor, als hätte sich dieses erste Kennenlernen vor einer halben Ewigkeit abgespielt, in einem anderen Jahrhundert oder fremden Universum. Obwohl ich, während ich das schreibe, noch immer durchs Fenster den Atlantik sehe, besitzt die Insel keine Gegenwart mehr. Ich lebe buchstäblich aus gepackten Koffern. Am Hafen von Arrecife wartet ein Container mit meiner gesamten Ausrüstung auf die Verschiffung nach Thailand, wo ein Deutscher aus Stuttgart auf irgendeiner Palmeninsel mit weißen Stränden eine Tauchbasis eröffnen will. Der zweite Container mit privaten Sachen ist fast leer geblieben. Als ich überlegte, was ich in Deutschland gebrauchen könnte, fiel mir kaum etwas ein. Was haben Shorts, Sandalen, Bullaugen von gesunkenen Schiffen und ein selbst gefangener, präparierter Schwertfisch im Ruhrgebiet verloren? Der einzig passende Ort für all das ist die Vergangenheit.
Langsam rollten wir die Piste hinunter und bogen an der kleinen Mauer, die mit rührender Anmaßung Atlantik und Festland voneinander trennte, links ab. Mein Anwesen bildete das Ende des Orts. An einem Sandplatz standen sich die beiden Häuser in Steinwurfweite schräg gegenüber: die zweigeschossige, mit großzügiger Dachterrasse versehene »Residencia«, in der ich gemeinsam mit Antje lebte, und die »Casa Raya«, das etwas kleinere Feriendomizil. Beiden Gebäuden hatte man ihren Platz in die schwarzen Uferfelsen hineingesprengt. Sie standen erhöht auf Natursteinsockeln, denen die Gischt nichts anhaben konnte. Ich hatte sie günstig erworben und aufwändig saniert, und Antje hatte in den Gärten rings um die Häuser wahre Wunder bewirkt. Tagelang hatte sie mit dem Bauunternehmer um die richtige Aushubmenge gestritten, Pläne für die Bewässerung gezeichnet und auf dem Anfahren von speziellem Boden bestanden. Gewissenhaft untersuchte sie Windbelastung, Sonneneinfall und die Ausbreitungsrichtung von Wurzeln. Mit den Jahren war am
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