Nullzeit
für die Ästhetik des Kargen«, erwiderte Theo.
»Und du bist einfach nur froh, dich auf festem Boden zu befinden.«
Jola zog Stiefel und Strümpfe aus und warf mir einen fragenden Blick zu, bevor sie die nackten Füße gegen die Windschutzscheibe stützte. Ich nickte zustimmend. Es freute mich, wenn sich meine Kunden möglichst rasch entspannten. Sie sollten sich nicht wie zu Hause fühlen.
»Fliegst du auch so ungern?«, fragte ich Theo.
Sein Blick war vernichtend.
»Er stellt sich schlafend«, sagte Jola. Sie hatte ihr Telefon hervorgeholt und tippte eine SMS. »Wie alle Männer, die Angst haben.«
»Ich betrinke mich, so schnell ich kann«, sagte ich.
»Das erledigt Theo schon vorher.«
Ein Handy piepste. Theo griff in die Innentasche seines Sakkos. Las und antwortete.
»Fährst du oft nach Deutschland?«, fragte Jola.
»Nicht, wenn ich es vermeiden kann«, sagte ich.
Jolas Handy piepste. Sie las und stieß Theo in die Seite. Beim Lachen zog sie die Nase kraus wie ein kleines Mädchen. Theo sah aus dem Fenster.
»Mir gefällt die Landschaft«, sagte er. »Sie lässt einen in Ruhe. Will nicht ständig bestaunt und bewundert werden.«
Ich verstand genau, was er meinte.
»Mich interessiert in den nächsten zwei Wochen nur, was unter Wasser ist«, sagte Jola. »Die Welt darüber kann mir gestohlen bleiben.«
Auch das verstand ich.
Wir erreichten Tinajo, eine kleine Stadt aus weißen Häusern mit orientalisch anmutenden Türmchen auf den Ecken der Flachdächer. An der Buchhandlung, die aussah, als hätte man sie saniert und danach geschlossen, bogen wir links ab. Nach wenigen hundert Metern hatten wir die letzten gepflegten Vorgärten hinter uns gelassen. Es folgten terrassenförmige Felder, dem Geröll abgetrotzt. Hier und da lagen ein paar Zucchinis auf der schwarzen Erde. Ein flacher Schuppen, auf dessen Dach ein Schäferhund in der prallen Sonne angebunden war, stellte das letzte Anzeichen von Zivilisation dar. Die Straße verwandelte sich in eine Schotterpiste, die sich, von weiß getünchten Steinen markiert, als gewundenes Band durch die Vulkanfelder zog. An dieser Stelle gerieten die meisten Kunden in Aufregung. In scherzhaftem Ton riefen sie: »Wo bringst du uns hin?« und »Das ist ja das Ende der Welt!«
Jola sagte: »Wow.«
Theo sagte: »Krass.«
Ich verzichtete auf touristische Hinweise zu Geschichte und Geologie. Sprach nicht von Vulkanausbrüchen, die in sechs Jahren ein Viertel der Insel unter sich begraben hatten. Ich hielt den Mund und überließ sie ihrem Staunen. Ringsum nichts als Gestein in bizarren Formen. Das Schweigen der Minerale. Nicht einmal ein Vogel ließ sich blicken. Der Wind rüttelte am Auto, als wollte er rein.
Nachdem wir den letzten Vulkankegel umrundet hatten, offenbarte sich plötzlich der Atlantik, dunkelblau mit weißem Spitzensaum und ein wenig unglaubwürdig nach so viel Gestein. An den Uferfelsen explodierte die Brandung zu hoch aufsteigenden Gischtwolken, wie in Zeitlupe gefilmt. Der Himmel eine Fortsetzung des Ozeans mit anderen Mitteln, blaugrau und weiß und windgezaust.
»Ach, Mensch«, sagte Jola.
»Kennt ihr die Geschichte«, fragte Theo, »wie zwei Schriftsteller am Strand spazieren gehen? Der eine beschwert sich, dass alle guten Bücher schon geschrieben worden seien. Schau mal, ruft da der andere und zeigt aufs Meer hinaus, da kommt die letzte Welle!«
Jola lachte kurz, ich gar nicht. Das mineralische Schweigen gewann immer. Nach einigen Minuten Fahrt erreichten wir Lahora. Den Eingang des Orts markierte eine Bauruine, ein Betonquader auf Natursteinfundament, dessen leere Fensterhöhlen über das Meer schauten. Die Schotterpiste verwandelte sich in einen rutschigen Sandstreifen, der steil ins Dorf hinabführte. Falls »Dorf« das richtige Wort war für eine Gruppe von dreißig unbewohnten Häusern.
Während ich darüber nachdenke, wie man Lahora am besten beschreibt, fällt mir auf, dass ich über die Insel und alles, was sich auf ihr befindet, in der Vergangenheitsform spreche. Kaum drei Monate ist es her, dass ich mit Theo und Jola zum ersten Mal nach Lahora fuhr. Wie üblich hielt ich auf der Klippe am oberen Ende des Orts, damit meine Kunden die Aussicht genießen konnten. Ich erklärte, dass Lahora, anders als viele Reiseführer behaupteten, keineswegs ein altes Fischerdorf sei. Vielmehr handele es sich um eine Ansammlung von Wochenendhäusern, erbaut von wohlhabenden Spaniern, die in Tinajo bereits ein schönes Anwesen besaßen, nur
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