Nullzeit
seinem Fünf-Tage-Bart und dem sympathischen, wettergegerbten Schottengesicht. Es war mir egal. Er war mir egal. Ich hätte früher wissen müssen, was für ein Arschloch er ist.
Am Abend rief ich Antje an und gratulierte ihr. Sie fing an zu weinen. Sie sagte, dass sie sich immer gewünscht habe, ein Kind von mir zu bekommen. Ricardo sei nett, aber sie habe nur einen Menschen geliebt, nämlich mich. Ich achtete darauf, möglichst fröhlich zu klingen. Sagte, wie gut ihr die Schwangerschaft stehe. Dass am Ende doch alles gut geworden sei. Dass wir uns in Deutschland sehen könnten, wenn sie ihre Eltern besuche. Antje schluchzte noch ein bisschen und sagte immer wieder: »Ach, Sven.« Aber es klang eher wehmütig als verzweifelt.
Jetzt, da ich mit dem Schreiben fertig bin, wird das Warten schwierig. Oft weiß ich den ganzen Tag nichts mit mir anzufangen. Ich habe entschieden, nicht zu fliegen, sondern meine wenigen Habseligkeiten per Containerschiff nach Deutschland zu begleiten. Die Fahrt nach Hamburg dauert vierzehn Tage, Anfang nächster Woche geht es los. Ich freue mich auf die Überfahrt. Ich verstehe nicht mehr, wie ich diese Insel für etwas Besonderes halten konnte. Sie ist ein Ort wie jeder andere. Krieg ist kein geographisches Phänomen.
Heute Morgen habe ich Jolas Namen gegoogelt und bin auf der Webseite eines Klatschmagazins gelandet. Die Überschrift lautet: »Jola Pahlen: Traumhochzeit mit Schriftsteller!« Darunter ein Foto von ihr und Theo. Sie strahlen um die Wette in die Kamera. Jola trägt die gleiche Frisur wie am Abend auf der Dorset , das dunkle Haar zu einer Krone geflochten. Auf Theos Nase sitzt eine Brille, die ich noch nie an ihm gesehen habe. Der kurze Artikel verkündet, dass »Bella Schweig« ihre Verlobung mit dem Schriftsteller Theodor Hast bekannt gegeben hat. Gerüchten zufolge werde man eine Arktis-Kreuzfahrt unternehmen, um am Nordpol zu heiraten.
Gleich darauf besuchte ich die Seite einer Immobilienvermittlung, die auf Ferienhäuser spezialisiert ist, und inserierte Casa Raya und Residencia zu einem günstigen Preis. Ich weiß nicht, warum, aber ich ertrage das Geräusch der Brandung nicht mehr.
Impressum
Das ist die E-Book-Ausgabe des im Jahr 2012 im Verlag Schöffling & Co. erschienenen Buchs.
© Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH,
Frankfurt am Main 2012
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Alexander Rötterink
E-Book-Konvertierung: Fotosatz Amann, Aichstetten
ISBN 978-3-89561-993-9
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http://www.schoeffling.de/buecher/ebooks
Kurzbeschreibung
Eigentlich ist die Schauspielerin Jola mit ihrem Lebensgefährten Theo auf die Insel gekommen, um sich auf ihre nächste Rolle vorzubereiten. Als sie Sven kennenlernt, entwickelt sich aus einem harmlosen Flirt eine fatale Dreiecksbeziehung, die alle Regeln außer Kraft setzt. Wahrheit und Lüge, Täter und Opfer tauschen die Plätze. Sven hat Deutschland verlassen und sich auf der Insel eine Existenz als Tauchlehrer aufgebaut. Keine Einmischung in fremde Probleme – das ist sein Lebensmotto. Jetzt muss Sven erleben, wie er vom Zeugen zum Mitschuldigen wird. Bis er endlich begreift, dass er nur Teil eines mörderischen Spiels ist, in dem er von Anfang an keine Chance hatte.
Juli Zehs neuer Roman ist ein meisterhaft konstruierter Psychothriller in der Tradition von Patricia Highsmith, bei dem der Leser, genau wie Sven, alle Gewissheiten verliert. Zugleich gelingt Juli Zeh ein brillantes und hellsichtiges Kammerspiel über Willensfreiheit, Urteilsfindung, Schuld und Macht.
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