Nullzeit
abgeknickten Ladekran, der quer über die Brücke gestürzt war. Der Heckladekran stand noch aufrecht – wie der ganze Dampfer. Die Fiedler , wie ich sie getauft hatte, sah aus, als wäre sie von mächtiger Hand hier abgesetzt worden, um auf einen geheimnisvollen Auftrag in der Zukunft zu warten. Wenn sie, wie ich vermutete, zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gesunken war, hatte kein menschliches Auge sie seit rund siebzig Jahren erblickt. Auf dem Deck dort unten hatten einst Männer gelebt und gearbeitet, gesungen und gestritten, hatten Gedanken und Gefühle gehegt und waren schließlich aller Wahrscheinlichkeit nach gemeinsam mit ihrem Schiff untergegangen. Ich schwebte über einer rätselhaften Vergangenheit, die, wie es Vergangenheiten so an sich haben, vor allem ein Friedhof war. Niemand außer den Fischen hatte sich um diese Toten gekümmert. Vielleicht galten sie bis heute als vermisst. Vielleicht gab es irgendwo noch erwachsene Enkel, die glaubten, dass sich ihr Opa mitten im Krieg nach Amerika abgesetzt und die Oma mit zwei kleinen Kindern allein gelassen habe.
Das Beeindruckendste an der Fiedler war ohne Zweifel ihr gewaltiger Schornstein, der in einiger Entfernung aufragte. Ich beschloss, das Ankerseil zu verlassen, hinüberzuschwimmen und den Rest des Abstiegs entlang des Schlots zu bewältigen. Bei der imposanten Größe des Wracks und der starken Strömung musste ich darauf achten, das Seil wiederzufinden. Der Anker würde mit Sicherheit ein ganzes Stück über den Grund kriechen; dafür war die Sicht besser als erwartet. Ich ließ das Seil los, arbeitete mit kräftigen Flossenschlägen gegen die Strömung und machte die Kamera startklar. Der Aufwand lohnte sich. Ich blickte von oben in einen schwarzen Schlund, der groß genug war, um eine Kuh zu verschlingen. Um den Schornstein herum drehte sich ein üppiger Sardinenschwarm, schmiegsam wie Stoff, behände wie ein Wesen mit einem einzigen Willen. Formte Dellen und Blasen, wenn ich mich näherte, um sich gleich darauf wieder um den Schlot zu schließen. Eine Etage tiefer stand eine große Gruppe Barrakudas, zu satt zum Jagen. Ich drückte den Auslöser. Um diese Aufnahmen würde mich die ganze Insel beneiden.
Die letzte Abstiegsetappe brachte ich zügig hinter mich. Ab jetzt würde die Zeit rasen. Mehr als zwanzig Minuten konnte ich in dieser Tiefe nicht zubringen, und zwanzig Minuten waren ein Wimpernschlag, vor allem angesichts der Größe des Untersuchungsobjekts. Ich zog eine Plastiktüte aus der Tasche, füllte sie mit Gas und ließ sie steigen. Wie eine hektische Qualle trudelte sie davon, im Wettstreit mit einer Familie Atemblasen unterschiedlicher Größe. Schnurstracks Richtung Oberfläche, wo Jola sie sehen und deuten würde: Alles in Ordnung, bin unten.
Dann schwamm ich los. Gegen die Strömung, aber gemächlich, weil Eile unter Wasser nur Gas, Kraft und Nerven verbraucht. Entlang der haushohen Stahlwände, die von einer geschlossenen Schicht aus Muscheln, Schwämmen und Weichkorallen bedeckt waren, hier und da mit Seeigeln und Seesternen verziert. Ein lebendiges, atmendes und immer hungriges Kleid, das kaum ein Stück Metall mehr sehen ließ. Die Barrakudas beobachteten mich gelangweilt. Während ich mit den Beinen kräftig arbeiten musste, standen sie fast reglos in der Strömung.
Ich sah Achterdeck, Bootsdeck und Brückendeck. Die Rettungsboote vollständig an ihren Plätzen, anscheinend war alles sehr schnell gegangen. Ich betrachtete Signalsteg, Morselampe und Funkmast, jedes Detail bis in die feinste Verästelung von Muscheln und Blumentieren bewachsen. Versehentlich brach ich eine kleine Steinkoralle vom Schanzkleid und schämte mich dafür. Ich achtete peinlich darauf, nicht in einem der verloren gegangenen Fischernetze hängenzubleiben, die das Wrack hier und da wie riesige Spinnweben bedeckten. Durch ein Loch in der Bordwand sah ich in den Maschinenraum. Ich erreichte den weggebrochenen Bug, der wie ein abgerissenes Körperteil abseits lag. Die Bruchstelle eine klaffende Wunde von gigantischem Ausmaß. Ich vermutete Kohleladung und eine englische Werft, vielleicht ein Handelsschiff aus den goldenen Zwanzigern, das später in den Dienst der Alliierten gestellt worden war. Viele Male würde ich hierher zurückkehren müssen, um nach Schiffsglocke oder Werftschild zu suchen, nach Typenschildern im Maschinenraum, nach Porzellan oder Besteck mit Reederei-Wappen, nach Herstellerbezeichnungen von Maschinentelegraphen und Kompassanlage,
Weitere Kostenlose Bücher