Nullzeit
Erinnerung teilen. Die Fiedler würde uns miteinander verheiraten.
Es zog mich jetzt ebenso stark hinauf wie hinab. Unter mir Dunkelheit, über mir das Licht. Die Grenze zwischen allen denkbaren Gegensätzen lief direkt durch mich hindurch. Ich befand mich zwischen hell und dunkel, oben und unten, gestern und morgen, Leben und Tod. Meine Instrumente sagten mir, in welche Richtung ich mich bewegen musste und wann. Aufwärts und genau jetzt. Ich löste den Haken der Halteleineund arbeitete mich mit Stopps von vier bis dreizehn Minuten die nächsten fünfzehn Meter hinauf.
Sechs Meter unter der Oberfläche verlief die gläserne Decke. Hier musste ich eine Stunde ausharren und abwechselnd reinen Sauerstoff und Bottom Gas atmen, während direkt über meinem Kopf der Bauch der Aberdeen lag, so nah, als könnte ich ihn mit ausgestrecktem Arm berühren. Unter mir der endlose blaugläserne Wasserblock des Atlantiks, in dessen oberster Schicht ich steckte. Nichts, an dem sich Hand oder Auge festhalten konnten, außer dem Ankerseil, das sich schnell in der Tiefe verlor. Jetzt zog mich alles hinauf und nichts mehr hinab. Ich wollte raus. Reden. Atmen. Trocknen. Es galt, so wenig wie möglich nach oben zu sehen, um die Nerven nicht zu verlieren.
Kaum zehn Minuten waren vergangen, als ich ein lautes Platschen hörte. Etwas Schweres musste ins Wasser gefallen sein. Ich hob den Kopf und schaute zur Oberfläche. Neben dem Boot schwamm ein Mensch.
Jetzt machen sie alles kaputt, dachte ich. Den sorgfältigen Plan, die Absprachen, mein Vertrauen. Den Geist der Expedition. Weil ihnen langweilig geworden war. Oder zu warm. Weil sie beschlossen hatten, ihre Posten zu verlassen und ein bisschen baden zu gehen, während ich hier unten die Sache zu Ende brachte. Die Enttäuschung nahm mir für einen Moment die Luft. Bis hierher war alles so gut, ja, perfekt verlaufen. Ich konnte nicht glauben, mich dermaßen in Jola getäuscht zu haben. Sie hatte mich angefleht, auf dieser Expedition dabei sein zu dürfen. Sie wollte meine Partnerin sein, ein Mensch, auf den ich mich hundertprozentig verlassen konnte. Oder etwa nicht? Mein Verstand war erschöpft, ich merkte, dass ich seltsame Schlussfolgerungen zog. Mit Sicherheit wusste ich nur, dass der kleine Badeausflug dort oben einen Angriff darstellte, auf alles, was mir lieb und teuer war.
Dann fiel mir auf, dass nicht zwei Körper im Wasser schwammen, sondern nur einer. Und der schwamm nicht. Er sank.
In der Erinnerung sehe ich ihn gemächlich auf mich zu treiben. In Wahrheit muss er untergegangen sein wie ein Stein. Trotzdem kommt es mir vor, als hätte ich endlos Zeit zum Nachdenken gehabt. Jola, dachte ich. Ihr ist etwas passiert. Genauer gesagt, dachte ich: Jetzt ist es passiert. Als hätte immer festgestanden, dass ihr etwas zustoßen würde.
Im Gegenlicht bildete der Körper einen dunklen Fleck, der sich beim Näherkommen vergrößerte. Die Umrisse waberten im bewegten Wasser. Dieser Mensch musste sofort zurück an die Oberfläche. Ich hatte das Ankerseil bereits losgelassen und wäre einfach aufwärts geschwommen, wenn mich die Leinenicht festgehalten hätte. Der Verstand nutzte die Gelegenheit, um die Instinkte niederzubrüllen: Du bleibst, wo du bist!
Wenn ich jetzt auftauchte, konnte mich der aufgasende Stickstoff umbringen. Kotzen, Atemnot, Lähmungen der Arme und Beine. Vielleicht würde ich auch gleich das Bewusstsein verlieren, während mir das Blut aus den Ohren lief. Zudem wusste ich nicht, was auf der Aberdeen geschehen war. Jola führte keine Schwimmbewegungen aus. Hatte sie sich den Kopf gestoßen und war über Bord gegangen? Aber warum unternahm Theo dann keinen Rettungsversuch? Schlief er, benebelt vom Restalkohol? Ich glaubte etwas anderes. Ich glaubte, dass Theo und Jola wieder einmal in Streit geraten waren. Dass er sie niedergeschlagen und ins Wasser geworfen hatte. Oder sie hatte sich im Gerangel verletzt und war über die Reling gestürzt. Fest stand, dass Theo sie in dieser Sekunde absichtlich ertrinken ließ. Wenn ich mit der bewusstlosen Jola auftauchte, lief ich Gefahr, dass er uns im Affekt angriff. Oder das Boot startete und einfach davonfuhr. Selbst wenn er nicht aggressiv wurde, konnte ich jedenfalls nicht darauf zählen, dass er alles daran setzen würde, mich in die nächstgelegene Dekompressionskammer zu bringen. Abgesehen von der Frage, ob ich so lange überlebte. Probleme löst du hier unten oder gar nicht.
Von dem Augenblick, als der Körper ins
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