Nullzeit
Wie sie ihre Zukunft, ihr Glück und ihr ganzes Selbst davon abhängig machte, die Lotte spielen zu dürfen. Und jetzt: Yvette Stadler. Er merkte nicht, wie peinlich er sich benahm. Oder es war ihm egal. Sagte ein ums andere Mal, dass das Jolas Ende sei. Das Ende von Hochmut und Stolz. Ab jetzt werde sie nichts weiter als dankbar sein, wenn sich jemand bereitfände, ihrem langsamen Untergang beizuwohnen. Dem tagtäglichen Altern in Bedeutungslosigkeit. Er, Theo, sei dazu bereit. Er könne sich gar nichts Schöneres vorstellen, als den Verfall der Frau von der Pahlen zu beobachten und zu dokumentieren. Am besten über Dekaden hinweg. Je langsamer und qualvoller, desto besser. Am Ende würde er einen Jahrhundertroman darüber schreiben. Eine tausendseitige Metapher auf eine würdelose Epoche. Von Umfang und Bedeutung nur den Buddenbrooks vergleichbar. Der heutige Abend sei Jolas Ende und damit Anfang eines tragischen Meisterwerks. Theo redete wie im Wahn. Irgendwann fasste ich ihn unter den Armen und zog ihn vom Stuhl. Auf der steilen Treppe trug ich ihn mehr, als dass ich ihn stützte. Tote und Betrunkene sind schwer, sofern sie nicht im Wasser liegen.
»Komm, alter Mann«, rief Jola jetzt, »gerade du solltest den Ausflug genießen. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Ich hielt das für einen Witz über seinen Alkohol- und Zigarettenkonsum, aber Theo schien sie beim Wort zu nehmen.
»Wie meinst du das?«, fragte er. »Zeit wofür?«
Sie standen einander am Rand der Kaimauer gegenüber. Leicht schwankend am Abgrund, dachte ich, ihre Lieblingsposition.
»Für Bootsfahrten«, sagte Jola. »Schließlich fliegst du am Samstag zurück.«
»Du nicht?«
In den folgenden Sekunden starrten wir Jola an wie ein Orakel, das im Begriff stand, den finalen Schicksalsspruch zu verkünden. Plötzlich konnte ich mir glasklar vorstellen, wie es wäre, wenn sie sich Samstagmittag am Flughafen in Luft auflösen würde. Gerade eben noch neben mir – einen Augenblick später verschwunden. Als hätte es sie niemals gegeben.
Jola reckte die Nase in den Wind und sprach das Urteil.
»Nord bei elf Knoten. Ideale Bedingungen. Der reinste Ententeich.«
Sie bemerkte unsere Blicke und lachte. Sprang zurück an Deck, vergewisserte sich, dass meine Ausrüstung verladen war, und startete die Dieselmaschine. Minuten später hatten wir das Ende der Mole erreicht und tuckerten aufs offene Meer hinaus. Ein Stück weiter östlich stach die erste Fähre zur Nachbarinsel in See. Theo saß an der Bugspitze und wartete auf die belebende Wirkung des Nordwinds. Jola stand am Steuer. Sie sah nicht aus, als bräuchte sie weiterführende Hinweise. Ich überließ es ihr, den Kurs zu halten, und begann mit dem Aufrödeln. Die Fahrt würde nicht viel mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen, und ich brauchte schon einige Minuten für das Urinalkondom. Ich setzte mich mit dem Rücken zum Steuerstand, rollte die Badehose herunter und sorgte mit einer langsamen Massage für den richtigen Grad der Versteifung. Beim Abrollen des Kondoms und Anbringen des Klebebands ließ ich äußerste Sorgfalt walten. Rutschte das Kondom ab, würde mir nichts anderes übrig bleiben, als während der bevorstehenden Stunden in den Trockenanzug zu pinkeln. Andererseits hatte ich im Roten Meer erlebt, wie ein erfahrener Taucher durch zu strammes Tape eine Harnleiterquetschung erlitt. Auf achtzig Metern bekam er bestialische Schmerzen. Schnelles Auftauchen war keine Option. Niemals. Nicht auf achtzig und erst recht nicht auf hundert Metern. Wie mein Ausbilder bei den Pionieren gesagt hatte: Dort unten hast du eine gläserne Decke über dem Kopf. Probleme löst du unten oder gar nicht. Ich kannte ausreichend Geschichten über Leute, die es erwischt hatte. Bei den meisten ließ sich nicht einmal verfolgen, was schief gegangen war. Da prüfte ich lieber jedes Detail zwanzigmal und kam dafür lebend wieder hoch.
Ich stieg in Unterzieher und Trockenanzug. Befestigte den Schlauch am Urinalventil. Kontrollierte Flossen, Maske, Handschuhe, Haube, Bleitaschen, Lampe und Ersatzlampen, Akku-Packs, Messer, Kamera, Deko-Boje, Reel, Plastiktüten, Tauchcomputer. Setzte mich an die Reling und atmete in den Rücken. Jetzt spürte ich die Nachwirkungen des Alkohols. Leichter Schwindel, ein Pochen hinter den Schläfen. Unter normalen Bedingungen wäre Restalkohol ein Grund gewesen, den Tauchgang abzublasen. Aber das waren keine normalen Bedingungen. Das war – ich weiß nicht, was. Ein verzweifelter
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