Nullzeit
Dann sagte er, dass es spät sei. Dass ich ein Taxi nehmen und mich schon mal hinlegen solle. Er würde Theo nach Hause bringen. Wir bräuchten alle wenigstens ein paar Stunden Schlaf.
Das mit dem Schlafen wird schwierig. Es gibt so viel, worüber ich noch nachdenken, was ich noch schreiben möchte. Aber Sven hat recht. Wir brauchen Schlaf. Ich glaube, draußen ist der VW-Bus vorgefahren. Das Licht muss aus sein, wenn Theo reinkommt. Ich mache jetzt Schluss.
17
N iedlich«, sagte Jola und sprang an Bord.
Die Aberdeen ist ein umgebauter Fischkutter, neun Meter lang, mit einer kleinen Kajüte, zwei Schlafplätzen, alles aus Holz. Dieselmaschine aus den Sechzigern, 75 PS, sechs Knoten. Jola inspizierte im Dunkeln den Steuerstand, während ich Stahlflaschen aus dem Auto lud. Die Scheinwerfer des VW-Busses erhellten den Kai. Wir waren die einzigen Menschen weit und breit. Der Hafen von Rubicón schlief noch. Hier gab es keine Luxusyachten wie in Puerto Calero, dafür kleine Urlaubssegler, Familienboote, gemütliche Kutter – ein schwimmender Campingplatz in den letzten Minuten der Nachtruhe. Hinter der Landzunge zeigte sich ein schmaler Streifen Morgendämmerung.
»Nur Radar und Funk?«
Ich reichte ihr die Tasche mit den mobilen Geräten. Echolot, GPS, Kartenplotter. Sie nickte zufrieden und machte sich an die Installation. Ich schleppte Anzug, Stages und Kisten mit weiterem Zubehör. Theo hatte sich etwas abseits auf eine Bank gesetzt und war damit beschäftigt, Alkohol auszudünsten.
»Knapp vier Kilometer südwestlich von hier? Also ungefähr 29 Nord, 14 West?«
Jola war gut. Sehr gut. Das Wrack lag auf 28 Grad, 50 Minuten und 33,8 Sekunden nördlicher Breite und 13 Grad, 51 Minuten und 8 Sekunden westlicher Länge. Ich gab ihr die exakten Daten und spürte, wie ich mich entspannte. Jola trug Jeans und ein kariertes Hemd und bewegte sich selbstbewusst, als würde sie jeden Tag mit der Aberdeen auf den Atlantik fahren. Ich glaubte, auf ihre Fähigkeiten vertrauen zu können. Theo sah in eine andere Richtung und zündete die dritte Zigarette an.
Es fällt mir schwer, diesen Tag zu beschreiben. Meine Erinnerung zeigt keinen zusammenhängenden Film, sondern einzelne Bilder, ein Puzzle, bei dem die Hälfte der Teile fehlt. Dabei käme es wahrscheinlich gerade jetzt auf jede Einzelheit an. Herr Fiedler, glauben Sie wirklich, dass uns die PS-Zahl eines alten Fischkutters interessiert? Finden Sie es nicht wichtiger, was für einen Eindruck Frau von der Pahlen am Morgen des 23. November 2011 auf Sie machte? Das sind schwerwiegende Vorwürfe, die Sie da erheben, Herr Fiedler! Geben Sie uns eine Chance, Ihnen zu glauben! War Frau von der Pahlen irgendwie anders als sonst? Bedrückt? Aggressiv? Hysterisch? Kommen Sie schon, Herr Fiedler, ein paar Begriffe werden Ihnen einfallen, so schwer kann das doch nicht sein!
Ist es aber. Jola war immer »anders«, jeden Tag, bei ihr gab es kein »sonst«. Wenn ich mich ehrlich frage, ob mir an diesem Morgen etwas aufgefallen ist, ob ich hätte wissen oder wenigstens ahnen können, was in den folgenden Stunden passieren würde, muss ich mit einem klaren »Nein« antworten. Möglicherweise war ich nicht aufmerksam genug. Zu sehr auf den bevorstehenden Tauchgang konzentriert. Auf das Sortieren der Ausrüstung, die ich bereits fünfmal gecheckt hatte. Soweit ich es mitbekam, wirkte Jola weder bedrückt noch aggressiv. Vielleicht ein bisschen zu aufgekratzt. Was mich nach den Vorfällen auf der Dorset nicht gewundert hätte – wenn ich auf die Idee gekommen wäre, darüber nachzudenken. Im Grunde strahlte sie vor allem gute Laune aus. Sie schien sich auf unser Abenteuer zu freuen. Ganz offensichtlich tat ihr die Aberdeen gut. Als hätte sie endlich ihren wahren Lebensraum gefunden. Und sie gefiel mir in Jeans und Arbeitshemd. Eigentlich noch besser als im Abendkleid.
Kaum fertig mit der Navigationsinstallation, sprang Jola an Land, zog Theo von der Bank und sang ihm »Eine Seefahrt, die ist lustig« ins Gesicht. Knurrend machte er sich los, die runtergebrannte Zigarette zwischen die blassen Lippen geklemmt. In der Nacht hatte ich eine geschlagene Stunde gebraucht, um ihn aus dem Kreis seiner Zuhörer zu reißen. Er hatte nicht genug davon bekommen, die Geschichte von Jolas Niederlage zu wiederholen. Wie sie sich seit Wochen auf die Rolle der Lotte Hass vorbereitete. Bücher las, einen Tauchkurs belegte. Sogar ein Foto der Lady an die Wand über ihrem Bett geheftet hatte.
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