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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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Versuch der Selbstbehauptung. Ich zwang mich zur Konzentration. Die letzten Minuten vor einem Tauchgang waren die wichtigsten der gesamten Expedition. Ich richtete den Blick nach innen, ging alle Punkte der Gasplanung noch einmal durch, visualisierte jeden einzelnen Handgriff. Meine Anstrengung schien sich auf Jola und Theo zu übertragen. Sie schwiegen eisern. Mit jedem Meter, den die Aberdeen zurücklegte, wuchs die Spannung an Bord. Selbst Theo sah aus, als käme er langsam zu Bewusstsein. Wenn er nicht mit zusammengekniffenen Augen über den Atlantik blickte, musterte er mich aufmerksam. Ich versuchte nicht, seinem Blick standzuhalten. Ich genoss es, an diesem Tag nicht für ihn zuständig zu sein. Ich durfte Wichtigeres im Sinn haben als die Frage, was in ihm vorging.
    Die Dieselmaschine senkte Ton und Schlagzahl, das gleichmäßige Rauschen der Bugwelle wurde leiser und verstummte. Ich trat zu Jola in den engen Fahrerstand und sah auf das GPS. Sie hatte die Koordinaten genau getroffen und außerdem schon den besten Platz zum Ankern gesucht. Unter uns zeigte das Echolot eine Erhebung des Meeresgrunds. Das Wrack lag ein Stück weiter östlich auf 107 Metern. Deutlich waren seine Umrisse auf dem Sonar zu erkennen. Ich legte Jola eine Hand zwischen die Schulterblätter, damit sie merkte, wie stolz ich auf sie war. Sie drängte an mir vorbei und machte sich daran, den Anker zu werfen. Niemand hatte seit Verlassen des Hafens ein Wort gesprochen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Zweifel mehr, dass die Expedition reibungslos verlaufen würde. Theo hatte nichts weiter zu tun, als während der drei Stunden des Tauchgangs die Wasseroberfläche im Auge zu behalten und meine Bojen zu identifizieren. Sollte er sich als unzuverlässig erweisen, würde Jola seine Aufgabe miterledigen. Sie würde mit einem Auge bei den Instrumenten und mit dem anderen auf dem Atlantik bleiben. Bernie und Dave waren gut, aber wenn es um Schiffe ging, war Jola offensichtlich besser als beide zusammen.
    Die nächsten zehn Minuten brachte ich damit zu, siebzig Kilo Ausrüstung mit Karabinerhaken am Körper zu befestigen. Vor allem die sechs Flaschen mit verschiedenen Gasgemischen schienen Tonnen zu wiegen. Im hermetisch geschlossenen Anzug schwitzte ich wie ein Fieberpatient. Die größte Herausforderung bestand darin, sich in voller Montur im schwankenden Boot zu erheben, zum Heck zu gelangen und die Flossen anzuziehen. Jola machte das »ok«-Zeichen, was ich mit der gleichen Geste erwiderte. Ich hätte nichts dagegen gehabt, mich in vollständigem Schweigen rückwärts ins Wasser fallen zu lassen. Aber Theo hatte aus den Dingen, die ihn beschäftigten, eine Frage gebaut, die er noch loswerden musste. Er fasste mein Handgelenk, um zu verhindern, dass ich im letzten Moment abtauchte.
    »Wenn wir mit dem Boot verschwinden, stirbst du?«
    »Ziemlich sicher«, sagte ich.
    Theo gab meinen Arm frei und nickte mir anerkennend zu, als wäre Lebensgefahr eine Leistung. Ich ließ mich nach hinten kippen. Bevor ich auf die Wasseroberfläche traf, glaubte ich, Jolas Stimme zu hören: »Happy Birthday, Sven.«
    Mein Vierzigster. Zu Schulzeiten hatte es diese Aufkleber gegeben: Achtung, heute beginnt der Rest des Lebens. Zum ersten und einzigen Mal schien der alberne Spruch zuzutreffen. Nur dass kein Untertitel darauf verwies, ob es sich um ein Versprechen oder eine Drohung handelte.
    Kaum im Wasser, befiel mich die vertraute Ruhe. Verschwunden das Gewicht der Tauchflaschen. Unter mir weder fester Boden noch freier Fall, sondern flüssige Dreidimensionalität, die ich in jede beliebige Richtung durchqueren konnte. Kein Seegang, beste Sicht. Ich unternahm einen zügigen Abstieg am Ankerseil. Bald erfasste mich die Strömung, so dass ich waagerecht am Seil hing wie ein Fähnchen im Wind. Auf sechzig Metern der erste kurze Stopp zum Wechsel auf das Bottom Gas. Kurz darauf kam das Wrack in Sicht. Ein gigantischer Schatten im ewigen Halbdunkel am Meeresgrund.
    Ich hatte damit gerechnet, dass es eine außergewöhnliche Erfahrung werden würde. Trotzdem überraschte mich meine eigene Reaktion. Mit jedem Meter, den ich dem Wrack entgegen sank, begannen meine Hände stärker zu zittern. Ich fühlte, wie sich überall am Körper die Haare aufrichteten. Das Geisterschiff unter mir besaß die Länge eines Fußballfelds und war in zwei Teile zerbrochen. Der abgetrennte Bug lag ein Stück vom Rumpf entfernt. Das Mittelschiff schien gut erhalten, bis auf einen

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