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meinst.»
«Hmm. Ich bin total erschossen. Schlaf schön, Süße.»
«Schlaf gut, Sara. Hab dich lieb.»
«XXX!»
Nachdem ich das Chatfenster wieder geschlossen hatte,rief ich ein letztes Mal meine E-Mails ab. Und siehe da: Wenn man vom Teufel spricht … Joe hatte mir eine Textprobe geschickt. Die angehängte Datei war nicht besonders groß, also öffnete ich sie gleich, um mir die Sache vom Hals zu schaffen. Es war ein Artikel von siebenhundertfünfzig Wörtern, der den Titel
Wildes Leben auf der Insel
trug. Ich musste lachen. Es gab zwar keinen Mangel an wilder Flora und Fauna auf der Insel, aber abgesehen davon konnte man sich kaum einen ruhigeren Ort vorstellen als Martha’s Vineyard. Oak Bluffs, unsere größte Stadt, wurde allgemein «der Sündenpfuhl» genannt, wäre aber in jedem anderen Teil der USA als friedliches Dorf durchgegangen. Joes Titel bewies durchaus Humor, setzte den richtigen Ton. Das versprach eine unterhaltsame Lektüre.
Doch diese Hoffnung hielt nicht lange. Joe schrieb langweilig und umständlich. Ohne den leisesten Hauch von Ironie oder Einfühlungsvermögen beschrieb er die verschiedenen Wildschutzgebiete der Insel, wo sie lagen, wie groß sie waren, welche Tiere dort lebten, wie sie finanziert wurden und so weiter und so fort, sodass ich am Ende des Textes das Gefühl hatte, mein Gehirn wäre schon längst in Tiefschlaf gefallen. Tiere in freier Wildbahn waren ein durchaus interessantes Thema, aber er hatte es total verschenkt. Auf der Grundlage dieser Schreibprobe konnte ich ihn unmöglich für ein Praktikum empfehlen.
Ich schrieb Joe eine Mail zurück, die ich für einigermaßen neutral hielt. Ich dankte ihm, dass er mir seinen Text gezeigt hatte, und sagte, er gefalle mir zwar, ich hätte allerdings den Eindruck, er müsse noch ein wenig an seinem Stil arbeiten, bevor er sich um ein Praktikum bewarb, da er dort vermutlich nur eine Chance bekommen würde. Ich war der Ansicht, alles sehr vorsichtig formuliert zu haben, und ging davon aus, dass er diesen Rat einer erfahrenen Kollegin zunächsteinmal zerknirscht verarbeiten musste. Gleich darauf merkte ich, wie falsch ich mit dieser Vermutung lag.
«Und ich dachte, Sie haben mich gern.» Die Mail erschien fast postwendend in meinem Eingangsordner.
Ihn gernhaben? Ich kannte ihn doch kaum. In meinem Hinterkopf schrillten die Alarmglocken:
Antworte nicht darauf, schalt den Rechner aus, geh schlafen
. Aber ich schenkte ihnen keine Beachtung.
«Natürlich mag ich Sie», schrieb ich zurück und sparte mir die Anmerkung, wie sehr es mich ärgerte, hier spätabends im Bett noch solche E-Mail -Unterhaltungen zu führen, obwohl ich um fünf schon wieder aufstehen musste. «Aber jeder Autor muss erst einmal lernen, und mein Rat wäre, dass Sie sich noch etwas Zeit nehmen, um Ihr Handwerkszeug zu vervollkommnen.» Was natürlich völliger Blödsinn war. Er schrieb einfach schlecht, es wäre sehr viel ehrlicher gewesen, ihm zu raten, sich ein neues Betätigungsfeld zu suchen. «Bitte nehmen Sie meine Bemerkungen nicht persönlich, Joe. Und machen Sie sich keine Sorgen: Sie werden bestimmt eines Tages ein großartiger Journalist!»
Seine Antwort kam sofort. «Das meinen Sie doch nicht so. Trotzdem danke, dass Sie das sagen. Manchmal sind Notlügen ja erlaubt, nicht wahr?»
«Ich lüge nicht gern.» Das stimmte zwar, trotzdem tat ich es gerade. «Aber jetzt muss ich wirklich schlafen. Wir sehen uns im Büro.»
«Am besten schicke ich Ihnen einfach noch einen Text, der gefällt Ihnen vielleicht besser.»
«Nein, vielen Dank. Wir sehen uns dann bei der Arbeit.»
«Der hier gefällt Ihnen sicher besser.» Der Anhang der nächsten Mail war ziemlich groß. Ich schrieb nicht mehr zurück. Stattdessen schaltete ich den Rechner aus, löschte dasLicht und hoffte, schnell einzuschlafen, damit ich noch genug Schlaf bekam, bevor der Wecker klingelte.
Kurze Zeit später klingelte stattdessen das Telefon. Das Display des Apparats auf meinem Nachttisch zeigte den Namen Joe Coffin an.
Ich stand auf und schaute auf den Gang hinaus. Bens Zimmertür war immer noch zu.
«Geh da nicht ran, ja?», rief ich über den Flur.
«Wieso auch?»
Da hatte er natürlich recht: Ben ging an sein Handy, wenn einer seiner Freunde anrief, aber um das Telefon zu Hause kümmerte er sich nur, wenn er sah, dass es ein Anruf für ihn war.
«Gute Nacht, Schatz. Träum süß.»
Es klingelte zehnmal, dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Und gleich darauf begann es
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