Nur 15 Sekunden
verlassene Strand an die Insel, auf der ich so lange und so glücklich gelebt hatte; wenn ich die kalten Gischttropfen auf der Haut spürte, glaubte ich auch Hugo um uns zu spüren. Es mochte albern sein, doch ich war mit der Idee hierhergekommen, Hugo in unser neues Leben einzuführen. Es war wohl mehr ein Gefühl als ein Entschluss, ein Drang, ihm zu zeigen, wo wir inzwischen gelandet waren und wer jetzt zu uns gehörte. Außerdem sollte er wissen, dass ich nun die Wahrheit über seinen Tod kannte und wusste, dass er keineswegs unvorsichtig gefahren, sondern vorsätzlich getötet worden war. Und dass ich ihn gewissermaßen gerächt hatte. Vielleicht hatte ich auch nur getan, was jede Mutter tun würde, wenn ihr Kind in Gefahr ist. Ich hatte eigentlich keine Rachegefühle verspürt, als ich den Abzug gedrückt und Joe erschossen hatte, nur nackte Angst. Alles andere war erst später gekommen, in den Tagen und Wochen danach, als ich langsam begriff, was tatsächlich passiert war an jenemAbend, als Hugo starb. Als Joe ihn ermordet hatte. Eine Zeitlang hatte ich gekocht vor hilfloser Wut, dann hatte ich angefangen, nach Wegen zu suchen, diese Wut abzureagieren, weil ich nicht wollte, dass sie unser aller Leben vergiftete. Ich stürzte mich in die Arbeit und versuchte, meine Energien in eine positive Richtung zu lenken. Ich verbrachte Stunden am Bett meiner Mutter, hielt ihre federleichte Hand und bot mich ihr an als Kanal in die Gegenwart, während sie die Nebenarme der Vergangenheit durchschiffte. Und ich streifte allein durch die ganze Stadt, erforschte eine Welt ohne Joe. Dabei hatte ich eines Tages festgestellt, dass Coney Island an kalten, einsamen Nachmittagen der perfekte Ort war, um mit den Geistern in Kontakt zu treten.
Ich glaube, auch Ben spürte die besondere Atmosphäre, denn er rannte immer wieder die halbe Strandpromenade hinauf und hinunter wie ein aufgeregter junger Hund, fort von den drei Erwachsenen und wieder zu ihnen zurück.
Einmal holte Courtney ihn ein und sagte etwas zu ihm, was ich nicht hören konnte, worauf er rasch die Promenade hinuntersprintete. Sie feuerte ihn an und schaute dabei auf ihre Armbanduhr. Dann ließ sich Ben plötzlich mitten auf der Promenade zu Boden fallen, so übertrieben theatralisch, dass es sich nur um einen gespielten Zusammenbruch handeln konnte.
«Warmduscher!», rief Courtney, und ich sah aus der Ferne, wie Bens Bauchdecke vor Lachen bebte.
«Los, Kleiner, hoch mit dir, sonst wird nichts aus unserer Abmachung!»
Ben rappelte sich hoch, sprintete halbherzig weiter und schaute dabei hin und wieder mit spöttischem Grinsen zu Courtney zurück.
«Was denn für eine Abmachung?», fragte ich, als Rich und ich sie eingeholt hatten. Courtney trug hippe, rotorangegemusterte Turnschuhe, enge Jeans und eine kurze schwarze Daunenjacke, deren Kapuze sie abgestreift hatte. Ihr vom Wind zerzaustes Haar wurde am Hals von einem weißen Schal zusammengehalten.
«Ich habe ihm versprochen, dass ich ihm das Schönste und das Schrecklichste erzähle, was mir jemals passiert ist, wenn er es in unter einer Minute bis zur dritten Treppe schafft.»
«Das will er vermutlich gar nicht wissen», bemerkte ich.
«Vermutlich nicht.» Courtney grinste. Ihr Gesicht hatte immer noch die Strahlkraft der Jugend, doch sie wirkte nicht mehr so ausgelassen wie im Sommer zuvor, als wir uns kennengelernt hatten. Auch mir hatte sie nie vom schönsten Erlebnis ihres Lebens erzählt, und ich fragte mich, was es wohl sein mochte. Wann und wo sie ihre schlimmste Erfahrung gemacht hatte, wusste ich. Joe hatte sie als Ersatz für mich genommen, um sie dafür zu strafen, dass sie mir nahestand. Sein Plan hatte offensichtlich darin bestanden, sie so lange bei sich zu behalten, bis er mich endlich hatte. Danach wollte er sie lebendig begraben, unter einer Falltür im Boden des Containers, in dem er sie drei albtraumhafte Tage lang festgehalten hatte.
«Als ich deine Stimme hörte», hatte mir Courtney erzählt, nachdem alles vorbei war, «da war ich mir nicht mehr sicher, ob ich tot bin oder noch lebe.»
«Du lebst», hatte ich ihr versichert. «Und ich hätte niemals zugelassen, dass er dir noch mehr antut.»
«Hör mal», sagte ich jetzt zu ihr. «Ich weiß, du meinst es gut, aber erzähl ihm das bitte nicht, ja?»
«Glaubst du im Ernst, ich würde ihm das erzählen?» Courtney bedachte mich mit einem spitzbübischen Lächeln. «Als ob ich in meinem Leben nicht viel Schlimmeres durchgemacht
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