Nur dieser eine Sommer
betäubt, zu bestürzt und zu schockiert gewesen, um etwas zu sagen.
Nachdem die letzten Trauergäste die Kirche verlassen hatten, wandte sich Julia an ihre Schwägerin. In ihren Augen stand Entsetzen.
„Cara, ich fürchte, er wird während der Beisetzung die Fassung verlieren! Du musst etwas unternehmen. Er ist halb verrückt vor Schmerz und macht den Kindern richtig Angst!“
„Er wäre nicht der Erste, der am offenen Grabe in Tränen ausbricht. Und mit mir wird er kaum reden wollen.“
„Im Gegenteil! Du bist die Einzige, mit der er überhaupt sprechen wird! Er ist völlig verstört, Cara! Er ist dein Bruder, er braucht dich! Außerdem muss ich jetzt nach Hause, um den Leichenschmaus vorzubereiten! Dauernd werden Speisen angeliefert; es reicht schon fast an die wundersame Brotvermehrung heran!“
Cara seufzte zwar, ließ sich jedoch erweichen. „Gut, geh du schon mal mit den Kindern. Ich werde sehen, was ich tun kann.“
Sie atmete den schweren Weihrauchduft ein, während sie den langen Mittelgang zu ihrem Bruder hinunterlief. Den Sarg hatte man soeben zum Leichenwagen getragen, in dem Lovies sterbliche Überreste ihre letzte Fahrt zum Friedhof antraten. Palmer starrte jedoch nach wie vor auf den leeren Platz inmitten des Blumenschmucks.
„Palmer?“
Er rührte sich nicht. Sie legte ihm sacht die Hand auf die Schulter. Der Wollstoff fühlte sich heiß und kratzig an. „Palmer, wir müssen gehen. Man wartet auf uns.“
Ihr Bruder holte tief Luft und kämpfte mit den Tränen. Als er sich erhob, wirkte er wie ein Greis. Julia hatte ihre Pflicht getan und dafür gesorgt, dass er einen gebügelten schwarzen Anzug anhatte, doch gepflegt konnte man ihn nicht nennen. Die Frisur war in völliger Unordnung, weil er sich ständig mit den Händen durchs Haar fuhr, und seine Kleidung sah völlig verrutscht und zerknautscht aus. Als er sich seiner Schwester zuwandte, schaute er sie mit den blutunterlaufenen Augen des kleinen Jungen an, den sie aus ihrer Kindheit kannte. So hatte er sie immer angeguckt, wenn er nachts verängstigt neben seiner Schwester auf den Treppenstufen gehockt und sich an sie geklammert hatte, während im Stockwerk darunter der Vater mal wieder am Toben gewesen war.
Cara öffnete ihm die Arme und auch das Herz, wie es ihre Mutter getan hatte. Als er ihr weinend in die Arme fiel, da schmolzen all die bösen Worte dahin, die eine kalte, harte Mauer zwischen ihnen errichtet hatten.
„Ich konnte mich nicht einmal von ihr verabschieden“, schluchzte er, „und ihr nicht noch einmal sagen, wie lieb ich sie hatte! Ich dachte, mir bliebe noch Zeit!“
In diesem Augenblick begriff Cara, welches Glück ihr beschieden gewesen war. Hätte sie nicht auf den Brief ihrer Mutter reagiert und mit ihr über jene vielen schmerzerfüllten Jahre gesprochen, dann wäre sie jetzt in der gleichen Situation wie ihr Bruder und müsste mit reuevollen Selbstvorwürfen leben.
Dankbar nahm sie sich vor, Vergangenes zu vergessen und sich mit ihrem Bruder wieder zu versöhnen. Noch an diesem Tage.
Nur ein geringer Prozentsatz der geschlüpften Jungen überlebt bis zur vollen Geschlechtsreife, um dann selbst für Nachwuchs zu sorgen. Forschungsergebnisse belegen, dass die Zahl der Meeresschildkröten weltweit immer weiter zurückgeht. Schildkröten existieren bereits seit Jahrmillionen. Es wird sich erweisen, ob die Bemühungen von professionellen und ehrenamtlichen Umweltschützern die Loggerheads vor dem Aussterben bewahren können.
27. KAPITEL
C ara stand auf der niedrigen Düne und sah, wie die Sonne im Atlantik versank. Der Mond war noch ein silbriger Schatten an einem sich rotviolett färbenden Abendhimmel. Hier war es gewesen, wo sich Lovie und Russell einst zu ihren Rendezvous getroffen hatten, und nun sollte es ein Stück unberührte Naturlandschaft für kommende Generationen werden. Hier fühlte Cara sich ihrer Mutter näher als auf dem Friedhof, wo sie in der Familiengruft an der Seite ihres Mannes beigesetzt worden war. Dort auf dem Friedhof ruhte nur ihre sterbliche Hülle, und Cara wusste, ihre Seele befand sich hier auf der Düne, von wo Lovie so viele Jahre aufs Meer hinausgeschaut hatte.
Allmählich hatte sich Cara in den vergangenen Wochen an ihren Schmerz gewöhnt, an dieses an- und abschwellende Gefühl des Verlustes. Doch nachts, wenn sie im Zimmer der Mutter schlief, in Lovies hohem Bett, dann spürte sie zuweilen, wenn die Brise ihr sanft über die Stirn strich, Lovies Gegenwart.
Doch ihre
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