Nur ein einziger Kuss, Mylord?
Kammerdiener gestattete sich ein kleines Lächeln. „Wahrhaftig, Sir. Ich weiß noch, wie oft Sie darum baten, die Kutsche verlassen zu dürfen.“
Julian lachte, als er Miss Daventrys ungläubigen Gesichtsausdruck gewahrte. „Es stimmt, Madam. Aber das Problem hat sich mit der Zeit gegeben.“
Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht und enthüllte ein Grübchen. „Dann fehlt mir wohl Reiseerfahrung als Kind. Aber damals wohnte meine Familie ganz bieder in Bath.“
„Bath? Nach dem, was Harry erzählte, glaubte ich, Sie hätten immer in Bristol gelebt.“ Woher zum Teufel war dieses Grübchen aufgetaucht?
Miss Daventrys Wangen röteten sich erneut, und das Grübchen verschwand. „Oh, Harry war noch sehr klein, als meine Mutter nach Bristol zog. Und ich ging seit meinem zehnten Lebensjahr in Bath zur Schule. Später war ich dort eine Zeit lang als Lehrerin angestellt.“
Sie verfiel in Schweigen und sah aus dem Fenster.
Julian wandte sich seinem Buch zu. Von Zeit zu Zeit sah er auf, um Miss Daventry verstohlen zu mustern. Was ganz entschieden nichts damit zu tun hatte, dass er nach dem Grübchen Ausschau hielt. Nein, das ganz sicher nicht. So ein Grübchen war schließlich nichts Besonderes. Aber irgendwie hatte Miss Daventry damit beinahe hübsch ausgesehen, Brille hin oder her. Und ihr Mund verlor alle Strenge, wenn sie lächelte, wurde weich, einladend …
Sie hatte irgendetwas an sich – etwas, das in ihm den Wunsch entstehen ließ, sie wieder und wieder anzuschauen … Die Augen. Natürlich, das war es. Hatte er sich erst an ihre Verschiedenfarbigkeit gewöhnt, würde Miss Daventrys Anblick ihn nicht mehr aus der Ruhe bringen. Aber bis dahin war es ein Gebot der Höflichkeit, dass er sich um seine reisekranke Angestellte kümmerte. Nicht mehr und nicht weniger.
Nachdem er sich dies in Erinnerung gerufen hatte, vertiefte Julian sich erneut in sein Buch und sah nur noch höchstens alle zehn Seiten von seiner Lektüre auf.
Christiana Daventry war sich Lord Braybrooks prüfender Blicke bewusst. Sie tat ihr Bestes, um sie zu ignorieren, doch es fiel ihr schwer, ihn nicht ihrerseits unter halb gesenkten Wimpern hervor verstohlen zu betrachten. Ihr Herz klopfte unangenehm schnell – was jedoch, wie sie sich versicherte, nur daher rührte, dass sie beinahe zu viel über sich verraten hätte. Jedenfalls konnte das rasche Pochen in ihrer Brust nichts mit Lord Braybrooks blitzenden blauen Augen zu tun haben, die mehr zu sehen schienen, als sie sollten. Es war schließlich nicht so, dass er sich etwas aus ihr machte. Sie stand in seinen Diensten, und einzig aus diesem Grund lag ihm an ihrem Wohlergehen. Er verhielt sich freundlich ihr gegenüber, genau wie er es bei jedem anderen Bediensteten getan hätte. Oder bei seinem Hund oder seinem Pferd. Das war bewundernswert, aber nichts, das ihr Herz zum Rasen brachte. Adel verpflichtet, rief sie sich in Erinnerung. Und natürlich konnte ihm nicht daran gelegen sein, dass ihr in seiner luxuriösen Kutsche übel wurde.
Aber der wache Blick seiner blauen Augen war schwer zu ignorieren. Und es machte sie wütend, als sie sich dabei ertappte, dass sie in einen Tagtraum abzugleiten drohte, in dem die bemerkenswerten Augen Seiner Lordschaft sie betrachteten. Und zwar nicht aus der Besorgnis, dass sie sich womöglich jeden Moment über seine auf Hochglanz polierten Stiefel übergab.
Lächerlich! Sie wusste nichts von ihm. Höchstens dass er die Rücksicht besaß, eine Gesellschafterin für seine Stiefmutter zu engagieren, dass er so freundlich war, die Plätze mit einer Reisegefährtin zu tauschen, die sich elend fühlte, und dass er Verstand genug hatte, um der Aufsässigkeit seiner Schwester den Wind aus den Segeln zu nehmen. Lieber Himmel, wenn sie nicht Acht gab, machte sie noch einen Musterknaben aus ihm!
Lord Braybrook war kein Musterknabe. Das Funkeln in seinen Augen und erst recht seine selbstverständliche Arroganz legten es jeder vernünftigen Frau dringend nahe, einen weiten Bogen um ihn zu machen. Jedenfalls wenn die betreffende vernünftige Frau nicht von ihm darüber aufgeklärt worden war, dass er es nicht auf ihre Tugend abgesehen hatte. Aufgeklärt in einer Weise, als sei allein die Idee völlig absurd. Aber das war sehr gut so.
Christiana konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass wenn Lord Braybrook einer Frau seine Aufmerksamkeit schenkte, jegliche Vernunft ohnehin unter schweren Beschuss geriet.
Was für ein Unsinn! Vermutlich
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