Nur ein einziger Kuss, Mylord?
war er unausstehlich, wenn man ihn näher kannte. Einer von der Sorte, der gern junge Hunde trat. Ja, viel besser. Jemanden, der Welpen Tritte versetzte, mochte man nicht. Zu schade, dass sie ihn sich in dieser Rolle nur mit Mühe vorstellen konnte. Eher drängte sich ihr das Bild auf, wie er mit seinen schlanken Händen ein hilfloses Wesen hegte und pflegte. Es streichelte …
Sie unterdrückte ein Gähnen. Lieber Himmel, wie warm es heute war … und dann das sanfte Schwanken der Kutsche … fast wie eine Wiege … sie fühlte sich so viel besser, seit sie in Fahrtrichtung saß …
Irgendwann registrierte sie verschwommen, dass jemand ihr half, sich auf der weich gepolsterten Sitzbank auszustrecken. Sanft wurden ihr die Haube und die Brille abgenommen und eine Decke über sie gebreitet. Eine federleichte Berührung an ihrer Wange … nur ein Traum, eine Erinnerung … Sie sank wieder in Schlaf.
Es war fast dunkel, als eine sachte Berührung an der Schulter sie weckte. „Wir sind gleich da, Miss Daventry“, hörte sie eine tiefe Stimme sagen.
Benommen setzte sie sich auf. Mit starken Händen hielt jemand sie fest, als die Kutsche sich in einer Kurve zur Seite neigte. Kutsche …? Wo …? Angestrengt blinzelte sie die Schläfrigkeit fort und griff nach der ledernen Halteschlaufe über ihrem Sitz. Langsam ließ ihre Verwirrung nach. Nein, sie befand sich nicht in Bristol. Sondern in Lord Braybrooks Kutsche. Mit seinem Kammerdiener. Aber wo hatte sie ihre Brille gelassen? Vor ihren Augen war alles unscharf.
„In ein paar Minuten haben wir unser Ziel erreicht, Miss Daventry.“ Als habe er ihre Gedanken gelesen, griff Seine Lordschaft in die Rocktasche und reichte ihr ihre Brille. „Ihre Haube liegt neben Ihnen“, fügte er ruhig hinzu.
Sein nüchterner Ton brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie steckte ein paar lose Haarsträhnen fest und setzte die Haube auf. Nach der langen Kutschfahrt war ihr Kleid völlig zerknittert, ganz zu schweigen davon, dass sie auch noch darin geschlafen hatte. Aber daran ließ sich nun nichts mehr ändern.
Mit Mühe riss Julian seinen Blick von Miss Daventry los und sah aus dem Fenster. Die eindrucksvolle Silhouette des Herrenhauses mit den einladend erleuchteten Fenstern hob sich gegen den rasch dunkler werdenden Abendhimmel ab. Daheim. Daran sollte er denken. Nicht an die unerwartete Zartheit ihrer Haut unter seinen Fingern, als er ihr die Haube und die Brille abgenommen hatte. Auch nicht an den satten rötlichen Braunton ihres Haars, bei dessen Anblick er, obwohl sie es straff zurückgekämmt und von einem Bataillon Nadeln gebändigt trug, von einer höchst beunruhigenden Empfindung durchzuckt worden war. Und schon gar nicht an das sonderbare Bedürfnis, sie beschützen zu wollen, als er sie im Schlaf betrachtet hatte.
Sie war seine Angestellte – eine Bedienstete, und nur das. Es kam nicht infrage, dass er irgendetwas anderes für sie verspürte als das Verantwortungsgefühl, das sich für ihn geziemte. Gemessen an ihrem distanzierten Verhalten ihm gegenüber, war dies auch genau das, was sie wollte.
Weder würde sie es erwarten noch schätzen, wenn er in ihr das einsame kleine Mädchen in der Schule in Bath sah. Dieser Teil von ihr ging ihn nichts an. Er sollte ihm nicht nahegehen, ihn berühren. Lächerlich, Mitgefühl zu empfinden für das verletzliche Wesen, das sie längst nicht mehr war. Ihn hatte man mit acht Jahren zur Schule geschickt … und als er in den ersten Ferien nach Hause gekommen war, hatte es ihn zutiefst verwirrt, dass seine Mutter fort war. Alle waren seinen Fragen ausgewichen, und er hatte erst nach und nach begriffen, dass etwas Skandalöses, Kostspieliges im Gange war, das sich „Scheidung“ nannte, und dass er seine Mutter vermutlich nie wiedersehen würde. Genau so war es eingetroffen. Bei der Heirat mit Serena war die Haltung seines Vaters klar gewesen – eine Zweckehe, die Gründe wie die Sicherung der Erbfolge, Besitz, Beziehungen und Pflichterfüllung in den Vordergrund stellte. Es galt, die Gattin zu mögen und zu respektieren, aber alles darüber Hinausgehende war gefährlich. Leidenschaft und Verlangen stillte man bei einer diskreten Geliebten …
Christiana setzte sich gerade. Die Kutsche rollte eine Auffahrt entlang, und die Pferde legten sich, nun, da sie ihrem heimischen Stall so nahe waren, noch einmal ordentlich ins Zeug. Dann ratterte das Gefährt über eine steinerne Brücke und durch einen Torbogen hindurch auf einen
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