0389 - Der Ghoul und seine Geishas
»Geh doch aus dem Weg, Mensch! Andere wollen auch raus.« Das Gesicht der »Dame« wurde zur Grimasse.
»Es tut mir leid«, sagte Shao.
»Davon habe ich nichts.« Sie musterte Shao blitzschnell, so daß sich die Chinesin für einen Augenblick wie ausgezogen vorkam. »Es reicht nicht, nur proper und scharf auszusehen, man muß sich auch behaupten können, Zuckerpuppe.« Das letzte Wort zischte sie aus dem Mundwinkel, bevor sie ihren Einkaufswagen weiterschob.
Shao schaute hinter ihr her, ohne sie recht wahrzunehmen. Sie stand vor dem breiten Glaseingang des Supermarkts und blickte auf den sonnenüberfluteten halbleeren Parkplatz, auf dem die Käufer ihre Wagen abgestellt hatten. Der Fahrzeuglack schien zu kochen, so warm war es geworden. Die Luft flimmerte über dem Asphalt. Zumeist Frauen kauften hier ein. Viele von ihnen hatten ihre Kinder mitgenommen, die sich in der Hitze vergnügten, um die Autos herumliefen oder mit Einkaufswagen Rennen veranstalteten.
Wo lauerte die Gefahr?
Shao wußte es nicht. Es sah alles so völlig normal und harmlos aus, was da vor ihren Augen ablief. Trotzdem nahm sie die innere Warnung sehr ernst.
Jemand war da, und zwar ganz in der Nähe. Er wartete auf sie, um blitzschnell zuschlagen zu können.
Shao war Chinesin. Dazu noch eine sehr hübsche. Das lange dunkle Haar hatte sie wegen der Hitze hochgesteckt, das modische Sonnentop in einem leuchtenden Rot besaß hauchdünne Träger und lag locker um ihren festen Busen. Die weit geschnittene Hose endete an den Knien. Sie strahlte so weiß, als wäre sie erst vor Minuten aus der Waschmaschine gekommen.
Sie sah nicht nur aus wie eine völlig normale Frau, sie war auch eine, und trotzdem war sie etwas Besonderes.
Shao umgab ein gewisses Geheimnis.
Sie stammte von der japanischen Sonnengöttin Amaterasu ab, war die letzte in der langen Ahnenreihe und hatte wegen ihrer Abstammung bisher nicht nur Freude erfahren.
Deshalb war sie stets auf der Hut. Zudem lebte sie mit Suko zusammen, der wie sein Freund John Sinclair Yard-Beamter war und als Geisterjäger arbeitete.
Dämonen und andere schwarzmagische Geschöpfe machten Jagd auf sie und hatten sie auf ihre Abschußliste ganz oben gesetzt.
Suko war nicht in London. Zusammen mit seinem Freund John trieb er sich in Cornwall herum, wo ein gefährlicher Fall auf die beiden Freunde wartete.
Erkennen konnte Shao nichts.
Nur den Parkplatz, die grelle Sonne, den spiegelnden Lack der abgestellten Wagen, das bunte Treiben der Menschen. Sie vernahm das Klappern von Flaschen, die in ratternden Einkaufswagen gegeneinanderstießen.
Eine normale Kulisse. Shao setzte ihre Sonnenbrille auf, um von dem grellen Sonnenlicht nicht geblendet zu werden.
Sie ging zum Parkplatz und schob dabei ihren zur Hälfte gefüllten Einkaufswagen vor sich her. Shao hatte nur wenig eingekauft. Bei der Hitze verdarben die Sachen sehr schnell.
Ihr Mini parkte ein Stück entfernt. Die vorderen Parktaschen waren allesamt belegt gewesen, aus diesem Grunde hatte sie eine ziemlich weite Strecke zurückzulegen.
Sie sah auch die blonde Frau wieder, mit der sie am Eingang bereits Bekanntschaft gemacht hatte. Die Frau stand mit einem jüngeren Mann zusammen, der nur eine abgeschnittene Jeans trug und seinen bloßen Oberkörper den Sonnenstrahlen zum Bräunen hingab.
Das schrille Lachen der Blonden hallte über die Autodächer hinweg, und Shao sah, wie sie dem Jüngling eine Hand auf die nackte Brust legte, bevor sie auf die Flaschen in ihrem Einkaufskorb zeigte. Wahrscheinlich wollte sie ihn zu einer Party animieren.
Die Chinesin fuhr vorbei. Sie sah ihren kleinen Wagen bereits, auf dessen Dach die Sonnenstrahlen knallten.
Zwei spielenden Kindern wich sie aus und hörte auch jetzt noch das Lachen der Blonden.
Schrecklich, diese Frau…
Zwei Parktaschen neben ihrem Auto stand ein großes amerikanisches Gefährt. Shao kannte sich bei diesen Marken nicht so aus, glaubte aber, daß es sich um einen Cadillac handelte. Das Auto besaß so stark getönte Scheiben, daß sie nicht hineinschauen konnte.
Hinter ihnen bewegte sich nichts, so glaubte sie, daß der Wagen leer war, und sie nahm ihn auch nicht mehr weiter zur Kenntnis, obwohl sie die Warnung nicht vergessen hatte.
Die Gefahr war nach wie vor da!
Signale des Unterbewußtseins meldeten sich bei ihr, und sie preßte hart die Lippen zusammen.
Neben der Tür blieb sie stehen, warf einen raschen Blick in die Runde, entdeckte nichts Auffälliges und öffnete die Fahrertür
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