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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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Hände so wehtaten, dass ich am liebsten geschrien hätte.
    Nach der Schule lief ich zu seinem Spirituosenladen in der Kraft Avenue und blieb dort bis zum Abendessen, wartete, bis er mit der Arbeit fertig war, und spielte mit leeren Kartons im Lagerraum. Dann fuhren wir in seinem himmelblauen Buick nach Hause, und manchmal blieben wir noch auf der Zufahrt im Auto sitzen und hörten die Nachrichten im Radio, während mein Vater eine seiner Chesterfields rauchte.
    Ich habe eine jüngere Schwester, Roberta, die damals zu nahezu jeder Gelegenheit rosafarbene Ballerinaschuhe trug. Wenn wir auswärts im Diner aßen, schleifte meine Mutter meine Schwester immer zum Damenklo, und Roberta schlitterte mit ihren rosa Ballerinas über den Kachelboden. Ich ging mit meinem Vater zu »Herren«. Damals hielt ich das für die übliche Aufteilung im Leben: ich mit ihm, sie mit ihr. Damen. Herren. Mamas. Papas.
    Ein Papakind.
    Das war ich, und ich blieb es bis zu einem heißen, wolkenlosen Samstagmorgen im Frühling des Jahres, als ich in die fünfte Klasse ging. Wir sollten an diesem Tag in einem Doppelspiel gegen die Cardinals antreten, die rote Wolltrikots trugen und vom Klempnerbedarf Connor gesponsort wurden.
    Die Sonne schien schon in die Küche, als ich reinkam, die langen Socken an den Füßen, den Baseballhandschuh unterm Arm. Meine Mutter saß am Küchentisch und rauchte eine Zigarette. Sie war eine schöne Frau, aber an diesem Morgen sah sie nicht schön aus. Sie biss sich auf die Lippe und wandte den Kopf ab. Ich erinnere mich noch, dass es nach angebranntem Toast roch, und ich dachte, sie sei so durcheinander, weil sie das Frühstück ruiniert habe.
    »Ich kann auch Cornpuffs essen«, sagte ich.
    Ich nahm mir eine Schale aus dem Küchenbord.
    Meine Mutter räusperte sich. »Wann ist dein Spiel, Schatz?«
    »Bist du erkältet?«, fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf und legte eine Hand an die Wange. »Wann ist dein Spiel?«
    »Weiß nicht.« Ich zuckte die Achseln. Damals trug ich noch keine Uhr.
    Ich holte mir die Milchflasche und die Cornpuffs. Als ich sie in die Schale schüttete, fielen ein paar auf den Tisch. Meine Mutter las sie auf und behielt sie in der Hand.
    »Ich fahr dich hin«, flüsterte sie. »Egal, zu welcher Zeit.«
    »Wieso kann Paps mich nicht fahren?«, fragte ich.
    »Er ist nicht da.«
    »Wo ist er denn?«
    Sie gab keine Antwort.
    »Wann kommt er wieder?«
    Sie zerquetschte die Cornpuffs in der Hand.
    Von diesem Tag an war ich ein Mamakind.
     
     
    Wenn ich nun behaupte, ich hätte meine tote Mutter gesehen, meine ich das genau so. Ich sah sie. Sie stand da, in einer lavendelblauen Jacke, mit ihrer Handtasche unterm Arm. Sie sprach kein Wort, sah mich nur an.
    Ich versuchte mich aufzurichten, aber ein heftiger Schmerz durchfuhr mich. Ich wollte ihren Namen rufen, doch kein Laut kam aus meinem Mund.
    Ich ließ den Kopf sinken und legte die Handflächen aneinander. Dann gab ich mir einen Ruck, und diesmal gelang es mir, mich aufzurichten. Ich blickte auf.
    Sie war verschwunden.
    Ich erwarte nicht, dass man mir das glaubt. Es klingt völlig verrückt, das weiß ich. Man sieht keine Toten. Man wird nicht von ihnen aufgesucht. Man fällt nicht von einem Wasserturm, bleibt wie durch ein Wunder am Leben, obwohl man sich eigentlich umbringen wollte, und erblickt dann an der Third-base-Linie seine tote Mutter mit ihrer Handtasche unterm Arm.
    Ich habe so angestrengt über diese Sache nachgedacht, wie man das dann tut, habe erwogen, ob es sich um eine Halluzination, ein Wunschbild, die Vision eines Betrunkenen, irgendeinen Irrsinn eines irren Hirns handelte. Wie gesagt, ich erwarte nicht, dass jemand mir Glauben schenkt.
    Aber es ereignete sich genau so. Meine Mutter war da. Ich hatte sie gesehen. Ich lag eine Weile auf dem Feld, dann schaffte ich es irgendwie, mich aufzurappeln, wischte mir Erde und Blätter von Armen und Beinen und setzte mich in Bewegung. Ich blutete aus diversen Schnitten und Schürfwunden und schmeckte Blut.
    Ich überquerte eine Rasenfläche, die mir sehr vertraut war. Ein Windstoß fuhr durch die Bäume und trieb eine Wolke gelber Blätter vor sich her. Ich hatte es fertig gebracht, meinen Selbstmord zweimal zu verpfuschen. Wie jämmerlich.
    Ich steuerte auf mein Elternhaus zu, wild entschlossen, die Sache nun endgültig hinter mich zu bringen.
    Lieber Charley –
ich wünsche Dir ganz viel Spaß in der Schule!
Wir treffen uns zum Mittagessen,
ich gebe einen Milchshake aus.
Ich habe Dich

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