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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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sehr lieb!
     
     
    Mama
     
     
     
    aus Chick Benettos Unterlagen, etwa 1954

Wie Mutter Vater kennen lernte
    M eine Mutter schrieb mir immer kleine Briefe, die sie mir dann zusteckte, wenn sie mich irgendwo absetzte. Ich habe das nie richtig verstanden, weil ich fand, sie hätte mir doch alles sagen können, dann hätte sie kein Papier verbraucht und sich den ekligen Geschmack des Klebstoffs am Briefumschlag erspart.
    Ich glaube, das erste Briefchen bekam ich 1954, an meinem ersten Tag im Kindergarten. Damals muss ich fünf Jahre alt gewesen sein. Kreischende und schreiende Kinder rannten auf dem Schulhof umher. Meine Mutter hielt mich an der Hand. Eine Frau mit schwarzer Baskenmütze ordnete Kinder in Reihen an. Die anderen Mütter küssten ihre Kinder und gingen weg, und ich habe wohl angefangen zu weinen.
    »Was ist?«, fragte meine Mutter.
    »Geh nicht weg.«
    »Ich bin wieder da, wenn du rauskommst.«
    »Nein.«
    »Ganz bestimmt.«
    »Und wenn ich dich nicht finde?«
    »Du findest mich.«
    »Wenn ich dich verliere?«
    »Du kannst deine Mutter gar nicht verlieren, Charley.«
    Sie lächelte und förderte aus ihrer Jackentasche einen kleinen blauen Umschlag zutage.
    »Hier«, sagte sie. »Wenn du mich ganz schlimm vermisst, kannst du den aufmachen.«
    Sie tupfte mir die Tränen mit einem Papiertaschentuch ab und umarmte mich. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie rückwärtsging und mir Kusshändchen zuwarf, das Revlon-Rot auf ihren Lippen, die hochgesteckten Haare. Ich winkte ihr mit dem Brief. Ich glaube, ihr war gar nicht bewusst, dass ich noch nicht lesen konnte. So war meine Mutter. Der Gedanke allein zählte.
     
     
    Der Erzählung nach lernte sie meinen Vater 1944 am Pepperville Lake kennen. Sie schwamm im See, und er spielte mit einem Freund Baseball. Der Freund warf den Baseball zu weit, er fiel ins Wasser, und meine Mutter schwamm darauf zu, um ihn zu fangen. Mein Vater sprang auch in den See. Als er mit dem Baseball wieder auftauchte, stießen die beiden mit den Köpfen aneinander.
    »Und damit haben wir nie aufgehört«, pflegte meine Mutter zu sagen.
    Sie verliebten sich heftig, und mein Vater, immer sehr zielstrebig, machte ihr bald darauf einen Heiratsantrag. Er war groß und kräftig, trug eine Pompadourfrisur, hatte damals gerade seinen Highschool-Abschluss gemacht und fuhr den blau-weißen LaSalle seines Vaters. Sobald es zulässig war, meldete er sich zur Armee, um im Zweiten Weltkrieg zu kämpfen, und sagte meiner Mutter, er wolle »mehr Feinde umbringen als jeder andere aus der Stadt«. Mit dem Schiff kam er nach Italien, in die nördlichen Apenninen und die PoEbene, unweit von Bologna. 1945 schrieb er meiner Mutter von dort aus einen Brief, in dem er ihr den Antrag machte. »Heirate mich«, schrieb er, was sich in meinen Ohren eher wie ein Befehl anhörte. Meine Mutter willigte ein in einem Brief, den sie auf edlem Leinenpapier schrieb, das viel zu teuer für sie war. Sie kaufte es dennoch, weil sie so viel Achtung vor dem Wort hatte.
    Zwei Wochen nachdem mein Vater den Brief erhalten hatte, unterzeichneten die Deutschen die Kapitulation. Vater kam nach Hause.
    Ich war immer der Meinung, dass er für seinen Geschmack nicht genug Krieg erlebt hatte und deshalb zu Hause seinen eigenen entfesselte.
     
     
    Mein Vater hieß Leonard, aber jeder nannte ihn Len, und meine Mutter hieß Pauline, wurde aber von allen »Posey« genannt. Sie hatte große mandelförmige Augen, dunkles glänzendes Haar, das sie häufig hochgesteckt trug, und samtigweiche helle Haut. Viele Leute fühlten sich bei ihrem Anblick an die Schauspielerin Audrey Hepburn erinnert. In der kleinen Stadt, in der wir lebten, gab es nicht viele Frauen, von denen man das sagen konnte. Sie schminkte sich gerne mit Wimperntusche, Eyeliner, Rouge und dem ganzen Kram. Die meisten Leute fanden sie »lustig« und »kess« oder später »exzentrisch« und »dickköpfig«; ich dagegen fand in meiner Kindheit meist, dass sie eine Nervensäge war.
    Trug ich meine Pantoffeln? Hatte ich meine Jacke dabei? Hatte ich meine Hausaufgaben gemacht? Hatte ich mir etwa die Hose zerrissen?
    Und ständig korrigierte sie meine Ausdrucksweise.
    »Ich und Roberta wollen...«, fing ich meinen Satz an.
    »Es heißt ›Roberta und ich‹«, verbesserte sie mich.
    »Ich und Jimmy gehen...«
    »Jimmy und ich«, fiel sie mir ins Wort.
    Kinder nehmen ihre Eltern immer in bestimmten festgelegten Posen wahr. Meine Mutter war die Frau mit dem leuchtenden Lippenstift, die

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