Nur Engel fliegen hoeher
sie wieder aufsieht, schreibt der vermeintliche Journalist noch immer auf seinem PC. Von der grauhaarigen Frau sieht Christin nur zuckenden den Rücken. Sie scheint noch immer zu weinen. Frau Tulpenmüller hat ihr einen Arm um die Schulter gelegt, als wolle sie ihr beistehen.
Christin zieht den zweiten Wagen mit den 21 Ordnern zu sich heran. Auch diese Aktendeckel tragen ein Schildchen mit dem Aufdruck »OPK«, darunter jeweils ein Monat und ein Jahr. Die erste Operative Personenkontrolle beginnt im Dezember 1988. Der letzte Ordner endet im September 1989. 21 Aktenordner für zehn Monate.
Christin greift einen aus der Mitte heraus, schlägt eine Seite auf und liest:
Ergänzung zum Zwischenbericht des leitenden Untersuchungsorgans
HA IX sowie der eingesetzten HA
über die kriminaltechnische Spurensicherung
lich-negativer Kontaktaufnahme bzw. illegaler Tatort: Hotel Europa , Praha, Hauptstadt der CSSR, Wenzelsplatz 1, Zimmer 09.
Als Beweismittel im Rahmen der Spurensicherung in o.g. Hotelzimmer im o.g. Zeitraum von O. g.
Bettlaken zeigt im mittleren Bereich diverse zwischen beiden Verdächtigen hindeuten.
dem Bettlaken vorhandene Schamhaare kriminaltechnisch
Nach erster visueller Einschätzung der zuständigen HA VIII stammen die dunkleren NSW angereisten Verdächtigen
dem Verdächtigen DDR-Bürger J. zuzuordnen.
Relevanz, daß die feindlich-negative männliche
nicht in der CSSR aufhalten konnte, da seit Dezember VI
des MfS für den Verdächtigen J. eine totale Reisesperre
Die operativ relevante Zuordnung der Schamhaarproben
und konspirativen Mitteln und Methoden herauszuarbeiten.
Observierung des Hotelzimmers sowie die mittels Magnettonband hinzuzuziehen.
J. trotz bestehender Reisesperre sich illegal in CSSR aufhielt, ist zu prüfen,
a.) im Rahmen des großzügigen visafreien Reiseverkehrs CSSR seitens der zuständigen GÜST ein schwerwiegender Kontroll-Fehler begangen
b.) der Verdächtige J. auf illegalem Wege die DDR-CSSR passiert hat und dadurch DDR juristisch hat.
sichergestellten Schamhaar-Proben sind dem Zentralen zur biochemischen Untersuchung und Erfassung der an die zuständigen Genossen folgender Abteilungen
...Christin klappt den Ordner zu. Sie tastet unter dem Stuhl nach ihrer Umhängetasche, um sich eine Zigarette herauszuholen. Da fällt ihr ein, dass sie ihre Tasche beim Betreten der Behörde in ein Schließfach legen musste. Ihre Hände schweben mit leicht gespreizten Fingern über den vor ihr stehenden Akten, einer Pianistin ähnlich, die sich noch nicht entschieden hat, welches Stück sie spielen will. Christin greift nach dem ganz links stehenden Ordner »OPK-I/Dezember 1988*..
Die oberste Seite ist eine Art Deckblatt mit vielen verschiedenen Abkürzungen, aus denen sie nicht schlau wird. Die nächste Seite ist ein Inhaltsverzeichnis, die dritte besteht aus zwei vollkommen geschwärzten Textblöcken. Lediglich der Anfangsbuchstabe J. ist zu Beginn des oberen Blocks zu sehen. Am Anfang des unteren Blocks steht ebenfalls nur J., der Rest ist schwarz. Christin hält das Blatt gegen das Fenster, um im Gegenlicht eventuell etwas zu entziffern. Doch es handelt sich nur um eine Kopie des ursprünglich geschwärzten Blattes. Sie erkennt nichts.
Christin schlägt Blatt 4 auf und liest:
Kreisdienststelle Greifswald des Ministeriums für Staatssicherheit
Operativer Bericht über die illegale Verbindungsaufnahme der mit einem roten Pkw Golf mit Westberliner Kennzeichen im Transit reisenden USA-Bürgerin J. mit dem DDR-Bürger J., welcher bereits als feindlich-negative Person auffällig wurde 1 und die vorläufige Festnahme und Befragung des J. durch die MfS-Kreisdienststelle Greifswald.
Es poltert. Christin blickt auf. Der Journalist ist aufgestanden und hat seinen Stuhl nach hinten geschoben. Er klappt seinen Laptop zu, legt ihn in einen Aktenkoffer und geht. Die Frau vor ihr scheint immer noch zu weinen. Frau Tulpenmüller sitzt an ihrer Seite und spricht ihr leise Mut zu.
Christin schiebt den Wagen mit den zwölf Ordnerstapeln von sich. Den anderen Wagen zieht sie dicht zu sich heran, als seien diese Dokumente ihr Eigentum. Sie glaubt gefunden zu haben, was sie lange gesucht hat.
Kapitel 3
Julia und Jonas klettern von der Kirchenmauer und stapfen Arm in Arm in der Ruine durch den frischen Schnee.
»Lass uns einmal um den Altar gehen«, sagt Julia, »dann sind wir symbolisch verheiratet, weil wir auf diesem heiligen Boden zusammen geschlafen haben.«
Eng
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