Nur Engel fliegen hoeher
geht Jonas zum Postamt auf dem Alex. Nach kurzer Wartezeit wird ihm eine Telefonzelle für ein Gespräch nach West-Berlin zugewiesen. Er wählt die Nummer im Krankenhaus. Es klingelt.
»Julia McCandle, hallo?«
»Mein Engel! Ich drücke dich. Und das Baby auch. Geht's euch gut?«
»Ja, Darling. Sehr gut. Wenn ich wollte, dürften wir schon nach Hause. Wo bist du?«
»Wir haben alle Noten studiert. Das Stück ist fertig.«
»Wann soll die Premiere sein?«
»Morgen. Bei Anbruch des Tages.«
»Auf der vereinbarten Bühne?«
» Genau dort.«
»Ich werde da sein.«
»Ich freue mich auf das Wiedersehen.«
»Ich drücke dir die Daumen. Ich liebe dich.«
Im Kaufhaus Centrum am Alex kaufen sie zwei Thermoskannen, die sie an einem Imbiss mit Kaffee füllen lassen. Dazu holen sie in der Kaufhalle eine Tüte Brötchen, kalte Bockwürste und mehrere Tafeln Schokolade.
Kurz nach 20 Uhr gehen sie zum Auto und fahren langsam auf der Karl-Liebknecht-Straße in Richtung Brandenburger Tor. Sie lassen den hell erleuchteten Palast der Republik links liegen und folgen der Straße Unter den Linden. Jonas beobachtet die ganze Zeit den Verkehr. Niemand scheint ihnen zu folgen.
»Eigentlich brauchten wir jetzt nur geradeaus zu fahren«, sagt Jonas.
»Dit wäre aber 'n bisschen langweilig, wenn die dit Tor aufmachen würden.«
Vor dem Pariser Platz, der als Sicherheitsbereich vor dem Brandenburger Tor gänzlich abgesperrt ist, biegen sie nach links in die Otto-Grotewohl-Straße ein, die ebenfalls in Richtung Grenze führt und kurz vor der Mauer endet.
»Und wieder brauchten wir nur geradeaus zu fahren«, sagt Jonas.
»Unser teurer Jenosse Erich fordert eben seine Untertanen zu Höchstleistungen raus. Dit macht nich jeder.«
Sie biegen nach links in die Leipziger Straße ein und parken den Lada vor dem Hochhaus Nr. 41. Das Gebäude ist 25 Stockwerke hoch und hat ein Flachdach. Sie schätzen die Gesamthöhe auf etwa 80 Meter. Fred und Jonas gehen einmal ums Haus.
Südlich des Hochhauses, in Richtung Grenze, steht seitlich versetzt ein vierstöckiges Schulgebäude mit verglaster Fassade. Der Schulhof grenzt an die Reinhold-Huhn-Straße, die noch auf DDR-Gebiet liegt. Nur einen Steinwurf weiter südlich folgt die Zimmerstraße. Auf dieser Straße verläuft die Grenze: zwei Mauern, dazwischen der sogenannte Todesstreifen. Fred und Jonas schätzen die Entfernung vom Hochhaus zur Grenze auf knapp zweihundert Meter.
Als sie wieder vor dem Eingang des Hauses stehen, drückt gerade eine Jugendliche einen Knopf am Klingelbrett. Über die Wechselsprechanlage meldet sich eine Stimme. Der Türöffner surrt, das Mädchen geht hinein. Bevor die Tür wieder zuschnappt, springt Fred vor und hält seinen Fuß dazwischen. Jonas reicht ihm ein Stück Holz und die Haustür bleibt einen Spalt offen.
Es ist 21 Uhr. Sie gehen zum Lada. Fred nimmt einen Bolzenschneider und einen Kuhfuß aus der Werkzeugkiste und legt beides in die Packtasche seines Drachens. Sie schultern ihre Taschen mit den zusammengelegten Gleitern und schlendern ruhig in das Hochhaus, nehmen den Holzkeil wieder heraus, und die Tür fällt ins Schloss. Sie gehen zum Fahrstuhl und drücken auf die 25. Als sich die Türen schließen, springt ein junger Mann zu ihnen und drückt auf die 24.
»Na, wie war der Zelturlaub?«, fragt der Unbekannte.
»Super Wetter jehabt, zwee Wochen Mecklenburger Seenplatte. Dit war richtig jut«, antwortet Fred.
»Na, dann wünsche ich euch einen guten Start.«
»Wie bitte?«
»Na, einen guten Start in die neue Arbeitswoche«, sagt der Fremde. Im 24. Stock steigt er aus.
Der Fahrstuhl erreicht den 25. Stock. Fred und Jonas steigen mit ihrer sperrigen Ladung aus. Sie sind allein. Eine Pendelglastür führt zu den Wohnungen, eine andere ins Treppenhaus, von dem eine Treppe zum Dach abzweigt. Sie gehen bis ganz nach oben. Wie erwartet, stehen sie dort vor einer verschlossenen Stahltür: An zwei innen angeschweißten Riegeln hängt ein Vorhängeschloss. Fred nimmt den Bolzenschneider und trennt den Bügel des Schlosses durch. Doch die Tür geht immer noch nicht auf. Sie ist zusätzlich mit einem Einbauschloss gesichert.
Fred will die Zunge des Schlosses mit dem Kuhfuß aus dem Türrahmen drücken. Keine Chance, das Stahlprofil des Rahmens ist zu dick, er kommt nicht heran. Er versucht jetzt, mit dem Kuhfuß das Türblatt aus den Zapfen zu hebeln. Das geht nur millimeterweise. Jonas hilft von unten mit dem Bolzenschneider, die Stahltür anzuheben.
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