Nur Mut: Roman
Gebrauch nehmen müssen. Über eine große Standuhr (die auch in jeder Hinsicht etwas über ihre Kraft ging) hatte sie ein schwarzes Tuch geworfen, so dass man den Eindruck haben musste, es stünde eine riesige schwarze Gestalt in der Ecke. Das gefiel ihr. An die eine jetzt kahle Wand (man erkannte noch die Umrisse der verschmähten Gemälde) hatte sie das große Poster einer Heavy-Metall-Band getackert, und die gegenüberliegende war seit drei Tagen beherrscht von einem großen Kruzifix. Darunter befand sich ein Beistelltisch, auf den die frisch erweckte Dörte etliche Votivbildchen platziert hatte. Die Ausstattungsstücke für ihre junge Frömmigkeit hatte sie auf einem Flohmarkt erstanden, fühlte sich ihnen jedoch mental noch nicht ganz gewachsen. Auf die Louis-Seize-Kommode hatte sie ihr kleines TV-Gerät und ihren DVD-Player gestellt.
Als Charlotte am Vortag ihr Zimmer betreten hatte (nicht ohne anzuklopfen und um Einlass zu bitten), war Dörte der Anflug einer Belustigung auf dem Gesicht ihrer Großmutter nicht entgangen. Charlotte hatte jedoch die seltsame Dekoration mit keinem Wort kommentiert.
Bibliothek (11 Uhr 00)
Dörte und Flocke unterhielten sich über einzelne Figuren aus ihrer alten Clique, die Dörte im Verlauf ihrer demikriminellen Eskapaden aus dem Auge verloren hatte.
»Lena geht neuerdings mit Moritz.«
»Da ham sich ja zwei Loser gefunden.«
»Fritz hat sich die Haare blondiert.«
»Der Schwachmat.«
»Und Anton ist jetzt bei diesen Occupy-Leuten.«
»Son Lowbrainer«, sagte Dörte.
Dass Anton ein Lowbrainer sei, fand Flocke zwar nicht, er nickte aber vorsichtshalber.
(Es war ihm nicht wohl in seiner Haut, schließlich war Anton sein Freund. Wenn alles gut liefe, sollte man später vielleicht mal korrigierend über Anton sprechen. Aber hier und jetzt durfte man nichts riskieren.)
»Und die anderen?«, fragte Dörte
»Die sind im Moment alle verreist. Es sind Sommerferien. Wirst du ja irgendwie mitgekriegt haben.«
»Und wieso schmorste nich auch unter ner Palme?«
»Keine Lust. Mache mir nichts aus Palmen und Meer und dem ganzen Scheiß. Meine Alten haben mir die Kanaren erspart. Ich durfte hierbleiben.«
»Dann haste ja jetzt Zeit die Menge. Was machste so?«
(Nun konnte er ja schlecht sagen, dass er die meiste Zeit an sie dachte.)
»Na, was man eben so macht: streamen, posten, twittern, simsen, skypen, shoppen, chillen, manchmal Kino, selten Club.«
»Wir könn ja mal zusammen abhängen, Kino oder so.«
»Ja, aber hallo, klar, super, alles, was du willst. Heißt das, dass du hier raus darfst?«
»Tagsüber ja, nachts nich. Das war der Deal. Wenn ich da nich mitgemacht hätt, hätten meine Alten mich in son knastmäßiges Internat gesteckt. Hatt ich keinen Bock drauf.«
II
Küche (zur selben Zeit)
Janina hatte es eilig.
Sie wollte so früh wie möglich nach Hause gehen. Ihre Mutter würde um 19 Uhr 53 auf dem Hauptbahnhof eintreffen.
Janina räumte das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine. Die Damen hatten sich viel Zeit mit dem Frühstück gelassen. Auch die Junge. Die am meisten. Und immer ließ die das Tablett mit dem schmutzigen Geschirr einfach in ihrem gruseligen Zimmer stehen. Gerade hatte sie das wieder holen müssen. Dabei hatte die Chefin (so nannte sie Charlotte bei sich) ihr doch schon mehrfach gesagt, dass das nicht ihre Aufgabe sei. Dass die Junge das selber zurücktragen müsse, wenn sie die Mahlzeit nicht gemeinsam mit den anderen einnahm (was sie nie tat). Aber Janina brachte es nicht über sich, das schmutzige Geschirr dort einfach stehenzulassen. Janina war ordnungsbewusst.
Janina hatte es heute eilig.
Ausgerechnet heute, so schien es ihr, ohne dass sie eindeutige Anzeichen hätte nennen können, ausgerechnet heute lag eine seltsame Stimmung über dem Haus.
Janina war beunruhigt.
Als sie das vollgekrümelte Tablett mit dem Geschirr der Jungen über den Gang des ersten Stocks getragen hatte, war ihr aufgefallen, dass die Verrückte (so nannte Janina Johanna bei sich) ihre Zimmertüre geschlossen hatte. Das hatte die noch nie getan. Immer war die Tür weit geöffnet gewesen sowie (wenn das Wetter es zuließ) auch die beiden Fenster zum Fluss, vermutlich damit jedermann auf der Promenade ihren komischen Ruf hören sollte. Und das Frühstückstablett hatte heute auf dem Boden vor der Tür gelegen. Das hatte die in den vergangenen Jahren immer auf der dort geparkten Gehhilfe abgestellt. Und heute? – Weit und breit keine Gehhilfe! Sie
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